1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Arbeit und Muße.
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Tagesfragen, die heute alle Welt aufregen und morgen verklungen sind,
fern vom verwirrenden Treiben der Partei, dem Ewigen und unbedingt
Gültigen unverwandt zugewendet, um mit gesammelter Kraft die mensch-
liche Erkenntnis zu erweitern.
Aber die geistige Erwerbslust ist ziellos wie die weltliche, und
je mehr sich die Forschung über den Stoff erhebt und den Gesetzen
nachgeht, welche allen Erscheinungen zu Grunde liegen, um so rastloser
zieht sie den Menschen mit sich fort. Darum ist der scheinbar Freiste
der am meisten Gebundene, und der in Muße Schwelgende entbehrt
ihrer am meisten; denn seine Arbeit hat keinen natürlichen Ruhepunkt,
sein Tagewerk keinen Feierabend. Wenn die müde Welt ausruht,
bleiben seine Gedanken in voller Anspannung, und ein ungelöstes
Problem erhält ihn Tag und Nacht in Aufregung.
Das Leben des Forschers ist von den Hellenen als das des
Menschen würdigste, reinste und erhabenste anerkannt worden. „Glück-
selig der Mann," sagt Enripides in den Worten, welche von den
Athenern auf Anaxagoras bezogen wurden, „glückselig der Mann, so
der Forschung Gebiet durchwandelt und nicht an dem verderblichen
Zwist teil hat, der nie Unrechtes gewollt. Sein Blick schaut still in
der ew'gen Natur nie alternde Ordnung; er Prüft, wie sie ward und
wodurch sie entstand. In solchem Gemüt kann nimmer der Keim
unlauterer Thaten entsprießen."
Dennoch hat sich bei den Hellenen erst später ein besonderer Stand
ausgebildet, dessen Geschäft in der Muße liegt, und als er sich bildete,
traten sofort mancherlei Gefahren und Übelstände zu Tage.
Die Sophisten waren die ersten, welche vom Wissen Profession
machten und dadurch den Grundsatz der Hellenen verleugneten, welche
jede einseitige Virtuosität für eine Mißbildung hielten. Sie trennten
sich zugleich vom Gemeindeleben; sie suchten sich über jede örtliche Be-
schränktheit zu erheben, von jeder Überlieferung frei zu machen, alles
nach theoretischen Gesichtspunkten zurecht zu legen und zu reformieren.
Wer leugnet, daß sie eine Fülle fruchtbarer Keime der Erkenntnis an
das Licht gefördert haben! Aber die schöne Harmonie, die Unmittelbar-
keit und frohe Sicherheit des antiken Lebens, woraus die Kunstschöpfungen
der klassischen Zeit hervorgegangen sind, war dahin, und während die
großen Philosophen, Sokrates, Platon, Aristoteles, alles daran setzten,
mit dem Volksbewußtsein in Einklang zu bleiben, indem sie den Inhalt
desselben klärten, vertieften und vielseitig verwerteten, machte die Sophistik
einen Riß, welcher niemals geheilt worden ist.
Die großen Weisen von Hellas nannten ihre Wissenschaft nur
„Liebe zur Weisheit", weil sie ganz aus dem unwiderstehlichen Drange
nach Erkenntnis hervorgegangen war und keinerlei äußeren Zweck hatte.