1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Ernst Curtius.
Welch ein Fortschritt im Vergleich mit jenen Beutezügen, in denen
griechische Scharen, wie die Wikinger der ügäischen See, zuerst in der Ge-
schichte auftauchen! Aber auch diese Gründungen sind noch Ergebnisse
großer Volksbewegungen, welche, vom nordischen Alpenlande ausgehend,
die ganze Halbinsel durchwogten und erst in dem Doppelgriechenland
diesseits und jenseits des Meeres zur Ruhe kommen. Es waren Kolonien
ohne Mutterstädte, sie gehören noch dem griechischen Mittelalter an, wo
in gärender Unruhe die Völkerschaften ihre festen Wohnplätze suchten.
Mit dem neunten Jahrhundert ist Hellas äußerlich fertig, der
Schauplatz hellenischer Geschichte naturgemäß abgegrenzt. Diese Grenzen
waren aber nicht im stände, die Schranken zu bilden, innerhalb derer
sich die anwachsende Volkskraft zurückhielt. Jetzt treten einzelne Städte
hervor, welche ihren Beruf darin erkennen, die Schranken zu durch-
brechen, den Überschuß an jungem Volk auswärts zu leiten und durch
eine große Rhederei die Auswanderungshäfen ihrer Umlande zu werden.
Das war der Anfang städtischer Kolonisation; dafür ist das achte Jahr-
hundert das epochemachende.
Milet war die erste Königin der Meere; dann Chalkis am stillen
Fahrwasser von Euboia. Von Chalkis erhielt Korinth den Anstoß.
Denn in Hellas wurde ja alles ein Gegenstand des Wettkampfes und
bald gab es keinen günstig gelegenen Ort, von wo nicht aus enger
Bucht die Seestraßen in das Weite gebahnt wurden. Was man
draußen suchte, waren sehr reale Gegenstände. Denn die Städte waren
diesseits und jenseits so dicht an einander gereiht, daß sie bei rasch an-
wachsender Volksmenge außer stände waren, sich auf eigenem Grund
und Boden die nötigen Hilfsquellen zu verschaffen. Man suchte und
fand sie in den Gegenden, die von der Heimat am verschiedensten waren,
in den breiten Stromthälern südrussischer Steppen wie im Delta des
Nillandes. Hier fand sich unerschöpflicher Vorrat an Korn, an Fischen,
an Holz, Metall und allem für den Schiffbau nötigen Material. Die
Kolonieen wurden überseeische Vorstädte der Mutterstadt, für den täg-
lichen Bedarf unentbehrlich.
Aber das Bedürfnis war nicht der einzige Antrieb; der Gottes-
dienst gab die Weihe. Als Apollodiener sind die Hellenen ihrer geistigen
Überlegenheit sich bewußt geworden und damit auch der Verpflichtung,
den heilbringenden Dienst auszubreiten. Die Errichtung eines Apollo-
altars war das erste, wodurch der fremde Strand an Hellas geknüpft
wurde. Jede Stadtgründung war eine Mission.
Darum galten in Delphi die Männer, welche das Wasser der
Arethufa tranken, d. h. die Bürger von Chalkis, für die besten aller
Hellenen, weil sie am kühnsten Propaganda machten am Strande von
Thrakien wie am Aetnafuß und am kampanifchen Golfe.