1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Goethe in Italien.
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gab es kaum Kupferstiche. Nun stand er da, wo die Dinge selbst sich
boten, in einer Fülle, die zuerst auch nur im ganzen zu überschlagen
fast unmöglich schien.
Vier Monate dauerte Goethes erster römischer Aufenthalt. Schon
zu Ende des Jahres hatte er die Absicht, nach Weimar zurückzukehren.
Er fühlte sich, schreibt er, von einer ungeheueren Leidenschaft und
Krankheit geheilt, wieder zum Lebensgenuß, zum Genuß der Geschichte,
der Dichtkunst und Altertümer genesen. Es genügte ihm, soviel ge-
wonnen zu haben; seine Bescheidenheit dem Herzoge und dem Lande
gegenüber, von dem er einen hohen Lohn bezog, erinnerten an die Rück-
kehr. In den Weimaraner Zirkeln beurteilte man seine Abwesenheit
in mißgünstiger Weise. Goethe verzehre das viele Geld in angenehmem
Nichtsthun, sagte man, während zu Hause schlechterbezahlte Beamte
seine Geschäfte noch obendrein besorgen müßten. Goethen blieb das
gewiß kein Geheimnis, aber der Herzog selbst beruhigte ihn, gewährte
ihm neuen, unbestimmten Urlaub und forderte ihn freundlich auf, den
ausgedehntesten Gebrauch davon zu machen.
So entschloß sich Goethe denn, nach Süden weiter vorzudringen.
Anfang Februar 1787 geht er nach Neapel. Gegen das, was er hier
fand, mußte für den Augenblick jeder frühere Eindruck weichen. Rom
mit seiner Bewegung war doch die Stille selbst im Vergleich zu dem
Treiben von Neapel. Was aber kommt auf gegen diese Natur? „Hier
ist mehr als alles," schreibt Goethe. „Ich bin nach meiner Art ganz
stille und mache nur, wenn es gar zu toll wird, große, große Augen."
In einer unaufhörlichen Berauschung erschien ihm die Welt da zu
leben und er selbst ward mit hineingezogen in den Taumel. Wer
dachte damals an Politik in Neapel? Sorglos strömte das Leben der
Leute so hin, sorglos selbst heute noch, denn diese Menschen scheinen
auch nicht durch die kleinste Last bedrückender Gedanken beschwert zu
sein. Man kommt nicht zur Ruhe. Musik, Gesang, Schießen, Schreien
und nachts Feuerwerk bilden ein ewiges Getöse. Niemals ist es stille
dort bei Tag und Nacht, nur die heißesten Mittagsstunden ausge-
nommen. Die geringfügigste Verhandlung wird mit Leidenschaft ge-
führt. Pracht, die aber kein Reichtum zu sein braucht, Armut, die
aber niemand Elend nennen kann, Schmutz und Gold: alles dicht
nebeneinander, und für den, der unsere Begriffe bürgerlicher Moral
anlegen wollte, ein Zustand babylonischer Begriffsverwirrung. Lügen
und die Wahrheit sagen, stehlen und ehrlich sein, Treue und Betrug
sind für die Neapolitaner im allgemeinen Dinge, zwischen denen nur
der Unterschied waltet, daß dem einen das eine, dem andern das
andere im Alómente gerade das bequemere ist: — an sich scheint den
Leuten eins genau denselben Wert zu haben wie das andere. Zugleich