1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Shakspere, der Dichter und der Mensch.
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griffene. Die verschiedenen Werke zeigen nns den Einen Dichter von
verschiedenen Seiten, auf verschiedenen Stufen geistiger und moralischer
Reife, von verschiedenen Ideen erfüllt, verschiedenen Stimmungen unter-
worfen. — Nimmt man nun zu dem Bild des Dichters, das uns seine
Werke enthüllen, hinzu, was man von feinen äußeren Lebensumständen
weiß, von den Bedingungen, den Einflüssen, unter denen er aufwuchs
und sich entwickelte — so wird die Aufgabe wiederum komplizierter,
aber auch um so lohnender: es handelt sich jetzt darum, die Einheit
des Lebens und der Werke zu finden. Die Lösung, soweit sie erreicht
wird, bildet die Anschauung (denn in Begriffe läßt sich derartiges nicht
fassen) von einem bestimmten geistigen Individuum in seiner Entwicklung.
Diese Aufgabe nun ist, auf Shakspere angewendet, mit ganz
außerordentlichen Schwierigkeiten verknüpft, vornehmlich aus zwei
Gründen: einmal wegen der Größe seines Genius, und dann, weil wir
von seinem Leben so wenig wissen, und was wir davon wissen, nicht
von der Art ist, daß es zu der ungeheuern geistigen Bedeutung des
Mannes irgend ein Verhältnis zu haben scheint. Einer roheren sinn-
lichen Auffassung, die sich das geistig Große nur in Gestalt eines Ge-
waltigen der Erde zu denken vermag, wird dieser Umstand besonders
hinderlich. — Shaksperes äußeres Leben hat nichts von dem Glanz
und dem Ansehen, mit dem man den Urheber dieser Werke gerne um-
kleidet sehen möchte; und dabei vergißt man, daß diese Werke selber an
unzähligen Stellen uns die Lehre predigen (man denke nur an die
Kästchen-Wahl im Kaufmann von Venedig), daß gerade die unschein-
barste Hülle oft den köstlichsten Inhalt in sich schließt; dabei übersieht
man, daß der Eindruck, den jeder feinere Beobachter von diesen Dich-
tungen davonträgt, vor allem der ist, daß sie viel mehr leisten als sie
versprechen, und daß man sich ihren Verfasser auch nur als einen
Mann denken kann, in dessen äußerer Erscheinung, Haltung, Lebens-
stellung, seine innere Bedeutung nur sehr unvollkommen zum Ausdruck
gelangte.
Auf dieser Sachlage aber: auf der Schwierigkeit, die Einheit von
Shaksperes Leben und Werken zu finden, beruht es wesentlich, wenn
die Bacon-Theorie — ich sage nicht: überhaupt entstanden ist, sondern
solche Verbreitung hat finden können. Und an diesem Punkt soll unsere
Betrachtung einsetzen. Wir wollen versuche::, einen Weg zu finden, der
uns dahin führt, jene Einheit wenigstens als eine denkbare, eine mögliche
zu fassen. Den Schleier zu lösen, der das Geheimnis des Genius ver-
hüllt, dürfen wir ninimer zu hoffen wagen. Das Wunder, welches in
der Erscheinung William Shaksperes gegeben ist, wird sich niemals
aufhellen lassen. Aber "bleibt nicht in allen ähnlichen Fällen nach
allem, was zur Erklärung geschehen sein mag, das eigentliche Wunder