1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Bernhard ten Brink.
Wie wohlthätig auf ein so organisiertes Wesen eine Jugend wirken
mußte, die ihn in stets erneuerte Berührung, in innigen Verkehr mit
der Natur brachte, leuchtet ein. Das Landleben mit seiner erfrischenden,
stählenden Luft vermochte dieser feinen Organisation seine Gesundheit
zu erhalten, in ihr jene Kraft zu entwickeln, die bei einer mehr treib-
hausartigen Erziehung vielleicht frühzeitig verkümmert wäre. Das
ruhige Behagen eines so zu sagen patriarchalischen Zustandes schützte
dieses gar so zart besaitete Gemüt, dieses gar zu feinfühlige Wesen
vor einer vorschnellen Entwicklung seiner Triebe und Anlagen, einer
Entwicklung, die es aller Wahrscheinlichkeit nach einem Zustand fieber-
hafter Überspannung entgegengeführt hätte, in der es, wie so viele,
zumal dramatische Talente zu Grunde gegangen wäre.
Und ferner: jener vertraute Verkehr mit der Natur, zu der ihn
das Leben in Stratford einlud, bildete schließlich die beste Schule für
seinen Geist, für sein noch schlummerndes Genie. Nicht nur wurden
seine Sinne, seine Beobachtungsgabe dadurch geschärft; er verdankt ihm
unendlich viel mehr. Dem sinnigen, höherer Entwicklung fähigen
Menschen trägt die Natur auf Schritt und Tritt Wunder entgegen —
Wunder primitiver Art und darum dem Standpunkt der Kindheit an-
gemessener und eher als solche erscheinend, denn die im Leben des
Geistes sich vollziehenden. Auf Schritt und Tritt werden Fragen an-
geregt; auch das Kleinste, Unwahrscheinlichste giebt sich liebevoller Be-
trachtung als ein in sich abgeschlossenes, in seinen Schranken vollendetes
Wesen zu erkennen — und wiederum erkennt man hier leichter den
Zusammenhang aller Wesen, die Bedingtheit des einen durch das
andere.
In das Buch der Natur that Shakspere in seiner Heimat einen
tiefen Blick. Nicht nur wurde sein ästhetischer Sinn von der Schön-
heit der ihn umgebenden Landschaft gefesselt; nicht nur lernte er, was
sich seinen Augen darbot, in ein Gesamtbild fassen und festhalten —
wie denn in seiner Dichtung zu wiederholten Malen die Erinnerung
an seine Heimat, an den sanft fließenden, durch grüne Wiesen, dunkle
Banmgrnppen, an schönen Obstgärten entlang sich schlängelnden Avon
wiederkehrt. Auf jede Einzelheit des vor ihm stehenden Bildes lernte
er den Blick lenken: jede Blume, jedes Kraut, jedes Tier erregte sein
Interesse; mit allem, was ihn umgab, machte er sich aufs genaueste
vertraut. Hier bethätigte und entwickelte sich jene universelle Sympathie,
die der Dichter der gesamten Schöpfung entgegenträgt, hier ist zu-
gleich die Grundlage jener ausgebreiteten Naturkenntnis, von der seine
Werke Zeugnis ablegen, die dem Botaniker, dem Zoologen, dem Physio-
logen, jedem auf seinem Standpunkt Erstaunen und Bewunderung ab-
ringt, ihnen die Vermutung nahe legt, Shakspere müsse jeden dieser