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1. Deutsche Prosa - S. 135

1900 - Gera : Hofmann
Shakspere, der Dichter und der Mensch. 135 Zweige der Wissenschaft fachmäßig studiert haben. Schwerlich hätte er je ein so tiefes Verständnis des Naturlebens sich erworben, wäre er in einer engen, geräuschvollen Stadt, in einer Atmosphäre hochgesteigerter litterarischer Kultur aufgewachsen. Shakspere aber betrachtet die Natur, wie der Dichter, wie das Kind, wie jedes Volk in seiner Kindheit sie betrachtet. Der Wechsel der Jahreszeiten, der auch uns noch elegisch oder heiter stimmt, wirkt ans den Naturmenschen wie die Entfernung oder die Rückkehr eines höchsten Gutes: es sind freundliche Götter, die im Herbste scheiden, dahinsterben, um im Friihling wieder aufzuleben. Ähnliche Mythen bildet sich jedes Kind — vor allem aber ein Kind, das dazu bestimmt ist, ein Shakspere oder Goethe zu werden. Denn darin besteht die historische Bedeutung und die nationale Kraft der höchsten Genies, daß sie den Volksgeist, den sie weiterführen, zugleich am vollständigsten repräsentieren, daß ihr Leben wie das ins kleine gezogene Bild des Lebens ihres Volkes erscheint: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft desselben in ihm sich spiegeln. So war auch Shakspere außer allem Zweifel als Kind Mythendichter. Jedes Ereignis im Leben der Natur suchte er sich menschlich zu deuten; alles wurde ihm zum Bild, zum Symbol. Und als er später die Verschiedenheit des sich Ähnlichen schärfer fassen gelernt, blieb doch der Eindruck zurück, den er in seiner Kindheit erhalten, blieb doch die Gewohnheit, ja die Notwendigkeit für ihn bestehen, in Bildern zu denken, in Bildern sich ausznsprechen. Aus der Gewohnheit des Vergleichens aber entwickelte sich die Fähig- keit, aus der Beobachtung einer einzelnen Erscheinung durch rasche Analyse und Kombination eine allgemeine Wahrheit abzuleiten. So sind die tiefen Blicke, die Shakspere später in den Zusammenhang der Dinge that, nicht außer Verbindung mit der Mythendichtnng seiner Kindheit zu verstehen. Der große Vorteil primitiver einfacher Lebensverhültnisse beruht darin, daß sie das Individuum vor einseitiger Ausbildung eines Teils seiner Anlagen auf Kosten der übrigen schützen. Die Arbeitsteilung, das Hauptmittel zum Kulturfortschritt der Menschheit im ganzen ge- nommen, hat für den einzelnen zur notwendigen Folge, daß er in einem Punkt sich entwickelt, in vielen anderen zurückbleibt, daß er auf seinem eigenen Gebiet ein Riese, ans anderen Gebieten unendlich viel hilfloser ist als der Naturmensch. Aller Welt ist geläufig — wenn auch nur aus populären Witzblättern — die Figur des unpraktischen Gelehrten, des in den Dingen des täglichen Lebens kindlich unerfahrenen Professors. Aber wie unerfahren ist der Gelehrte oft sogar in Wissens- gebieten, die seinem eigenen etwas ferner liegen! Vor solcher Einseitig- keit wurde Shakspere durch seine Natur, wie durch seine Erziehung
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