1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Shakspere, der Dichter und der Mensch.
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Zweige der Wissenschaft fachmäßig studiert haben. Schwerlich hätte er
je ein so tiefes Verständnis des Naturlebens sich erworben, wäre er
in einer engen, geräuschvollen Stadt, in einer Atmosphäre hochgesteigerter
litterarischer Kultur aufgewachsen.
Shakspere aber betrachtet die Natur, wie der Dichter, wie das
Kind, wie jedes Volk in seiner Kindheit sie betrachtet. Der Wechsel
der Jahreszeiten, der auch uns noch elegisch oder heiter stimmt, wirkt
ans den Naturmenschen wie die Entfernung oder die Rückkehr eines
höchsten Gutes: es sind freundliche Götter, die im Herbste scheiden,
dahinsterben, um im Friihling wieder aufzuleben. Ähnliche Mythen
bildet sich jedes Kind — vor allem aber ein Kind, das dazu bestimmt
ist, ein Shakspere oder Goethe zu werden. Denn darin besteht die
historische Bedeutung und die nationale Kraft der höchsten Genies,
daß sie den Volksgeist, den sie weiterführen, zugleich am vollständigsten
repräsentieren, daß ihr Leben wie das ins kleine gezogene Bild des
Lebens ihres Volkes erscheint: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
desselben in ihm sich spiegeln. So war auch Shakspere außer allem
Zweifel als Kind Mythendichter. Jedes Ereignis im Leben der Natur
suchte er sich menschlich zu deuten; alles wurde ihm zum Bild, zum
Symbol. Und als er später die Verschiedenheit des sich Ähnlichen
schärfer fassen gelernt, blieb doch der Eindruck zurück, den er in seiner
Kindheit erhalten, blieb doch die Gewohnheit, ja die Notwendigkeit für
ihn bestehen, in Bildern zu denken, in Bildern sich ausznsprechen.
Aus der Gewohnheit des Vergleichens aber entwickelte sich die Fähig-
keit, aus der Beobachtung einer einzelnen Erscheinung durch rasche
Analyse und Kombination eine allgemeine Wahrheit abzuleiten. So
sind die tiefen Blicke, die Shakspere später in den Zusammenhang
der Dinge that, nicht außer Verbindung mit der Mythendichtnng seiner
Kindheit zu verstehen.
Der große Vorteil primitiver einfacher Lebensverhültnisse beruht
darin, daß sie das Individuum vor einseitiger Ausbildung eines Teils
seiner Anlagen auf Kosten der übrigen schützen. Die Arbeitsteilung,
das Hauptmittel zum Kulturfortschritt der Menschheit im ganzen ge-
nommen, hat für den einzelnen zur notwendigen Folge, daß er in
einem Punkt sich entwickelt, in vielen anderen zurückbleibt, daß er auf
seinem eigenen Gebiet ein Riese, ans anderen Gebieten unendlich viel
hilfloser ist als der Naturmensch. Aller Welt ist geläufig — wenn
auch nur aus populären Witzblättern — die Figur des unpraktischen
Gelehrten, des in den Dingen des täglichen Lebens kindlich unerfahrenen
Professors. Aber wie unerfahren ist der Gelehrte oft sogar in Wissens-
gebieten, die seinem eigenen etwas ferner liegen! Vor solcher Einseitig-
keit wurde Shakspere durch seine Natur, wie durch seine Erziehung