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1. Deutsche Prosa - S. 140

1900 - Gera : Hofmann
140 Bernhard ten Brink. suchen wir uns Shaksperes Lage während der in Betracht kommenden Jahre lebhaft zu vergegenwärtigen, so kommen wir zu der Überzeugung, daß er in verhältnismäßig kurzer Frist die ganze Stufenleiter der Stimmungen und Gefühle, vom glühendsten Rausch der Leidenschaft bis zum fröstelnden Jammer blasser Enttäuschung, von der höchsten Freude bis zum tiefsten Weh durchkostet hat — und daß von dieser Zeit an die Epoche datieren muß, wo seine Kenntnis der Welt und des menschlichen Herzens und ebenso seine Sympathie mit menschlichen Leiden und Freuden sich zu vertiefen begann. Und nun kam Shaksperes Gang oder, wenn Sie so wollen, Flucht nach London. Zu Anfang des Jahres 1585 hatte sich seine Familie um ein Zwillingspaar vermehrt: Hamlet und Judith, die am 2. Februar getauft wurden. Man darf vermuten, daß William nicht lange darauf die Heimat verlassen hat, um in der Hauptstadt sein Glück zu versuchen. Der Zeitpunkt jener Hedschra ist uns nicht genauer be- kannt, denn an dieser Stelle klafft in der Biographie des Dichters eine große Lücke. Bis zum Jahre 1592 fehlen uns alle und jede Nach- richten über ihn — und das erste, was wir dann über ihn hören, zeigt uns, daß er in London und in seinem neuen Wirkungskreis ganz und gar festen Fuß gefaßt hat. — Die Zeit von Shaksperes Ankunft in der englischen Hauptstadt bis zum Jahre 1592, die wir nur mittelst Kombination und Phautasiegebilden auszufüllen vermögen, muß in dem Leben des Dichters von der höchsten Bedeutung und größten Tragweite gewesen sein. In jene Zeit fällt sein eigentliches Ringen mit der Welt, mit dem Schicksal — in jene Zeit fallen zweifellos neue schwere Kämpfe, die Shakspere gegen sich selber zu bestehen hatte — alles Krisen, aus denen er nicht unversehrt, jedoch siegreich und innerlich erstarkt und gereift hervorging. — In jene Zeit fällt die ungeheure Erweiterung seines geistigen Horizonts, wie sie der Übergang aus der Stratforder Enge und Stille auf den lauten Markt des englischen Lebens für den Dichter im Gefolge hatte. — Und hier müssen wir uns die große geschichtliche Epoche vergegenwärtigen, in der England sich seiner europäischen Mission bewußt wurde, und wo es zu gleicher Zeit die Arme nach der neuen transatlantischen Welt auszustrecken begann; die Zeit, wo die Wogen des englischen Volkslebens so hoch gingen und das Nationalgefühl eine so ungeheure Steigerung erfuhr; die Zeit, wo England auch in der jungen Wissenschaft des geistig erneuerten Europas seinen Platz sich zu erobern begann, und wo die englische Dichtung einen Flug wagte, wie nie zuvor, sich zu Höhen emporschwang, die sie auch später nicht wieder erreicht hat. In jener Epoche haben wir uns den jungen Provinzler auf das Pflaster der großen Hauptstadt versetzt zu denken — mit seiner naturwüchsigen Art, seiner geistigen Frische,
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