1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Shakspere, der Dichter und der Mensch.
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-seinem feinen Beobachtungssinn, seiner bereits reichen inneren Erfahrung,
seinem Lerneifer, seiner Aufnahme- und Begeifterungsfähigkeit — und
vor allem mit jener unverwüstlichen Kraft, jener Gewandtheit und Aus-
dauer, die ihn im Kampf des Lebens, auch wo er strauchelte, niemals
zu Falle kommen ließ. Damals ist Shakspere der Sinn für Geschichte
und Politik erst recht aufgegangen; damals hat er die Lücke seiner
litterarischen Bildung ausgefüllt und nicht nur die Schriftsteller seiner
eigenen Nation, sondern auch manche große Geister der alten Welt und
des Auslandes — zumal Italiens — wenn auch zum großen Teil nur
aus zweiter Hand, in Übersetzungen und Nachbildungen kennen gelernt.
Damals ist Shakspere sich klar geworden über seinen eigentlichen
Beruf und ist demjenigen Institut zugeführt worden, dessen Zukunft
mit der seinigen unzertrennlich verbunden war. Ohne Zweifel hat
Shakspere, wie die Tradition uns lehrt, beim Theater von der Pike
auf gedient und sich erst allmählich zu einer höheren Stellung als
Schauspieler und als Schauspieldichter emporgeschwungen. Bereits
im Jahre 1592 gilt er für das Faktotum der Gesellschaft, der er
angehörte.
Unter den zahlreichen Thorheiten, welche die Baconianer sich zu
Schulden kommen lassen, ist die größte wohl die, daß sie die Größe
und Tiefe seiner Dichtungen mit seiner Stellung als Schauspieler und
Schauspielunternehmer nicht vereinbar finden. Als ob der größte
Dramatiker aller Zeiten ohne die genaueste Kenntnis der Bühne, wie
sie nur durch vieljährige Praxis erworben wird, auch nur zu denken
wäre. Und wie zeigt sich Shakspere mit der Bühne verwachsen! —
wie liebt er es, das Leben unter dem Bild des Schauspiels und umge-
kehrt wieder das Schauspiel unter dem Bild des Lebens anzuschauen!
Wie genau kennt er die Leistungsfähigkeit des Schauspielers und die
Bedürfnisse des Zuschauers! — Warum giebt es bei Shakspere keine
undankbaren Rollen? Warum wirken auch die üppige Fülle der Diktion
und die verschlungenen Gänge von tiefer Reflexion bei ihm dramatisch?
— Weil er die Bühne kennt, weil er, indem er seine Scenen schreibt,
nicht nur seine Gestalten lebendig vor sich sieht, den Ton ihrer Stimme
hört, ihr Mienenspiel und ihre Gesten sieht, sondern weil manchmal
sogar diese Gestalten vor seinem geistigen Auge die vertrauten Züge
bestimmter Schauspieler au sich tragen.
Das, was Shaksperes Werken ihr einzigartiges Gepräge auf-
drückt, jene Verbindung von tiefstem, unvergänglichem Gehalt und
höchster momentaner Wirksamkeit, erklärt sich eben nur daraus, daß
der Dichter der Bühne ganz und gar angehörte, in seiner Thätigkeit
für das Theater seinen Lebensberuf antrat und doch wieder mit seinem
Denken und Sinnen weit über den begrenzten Horizont der leichten