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1. Deutsche Prosa - S. 202

1900 - Gera : Hofmann
202 Hermann Hettner. Nähen und Krankenpflege in fremden Häusern das Ihrige zur Auf- rechterhaltung und Förderung des kleinen Hausstandes beizutragen. Wer von Dresden nach Kamenz geht, betrete den dicht an der Straße liegenden Kirchhof zu Pulsnitz. Sogleich am Eingang desselben, an der rechten Seite findet er ein Grab, das die sterblichen Reste von Rietschels Eltern umschließt. Der Sohn hat in kindlicher Liebe das Grab mit deren Porträtreliefs geschmückt. Es sind ehrsame, schlichte, tüchtige Bürgergesichter; der Vater hat ganz und gar die Gesichtszüge seines Sohnes, nur herber und derber. Schöner und tiefempfundener hat wohl nie ein Sohn seine Eltern verherrlicht. Die Formengebung ist, wie es in der Natur Rietschels lag, und wie es gerade hier dem Stoff so durch- aus angemessen war, in der scharfen Individualisierung der altdeutschen Meister gehalten, aber geläutert und gehoben durch das feinste plastische Stilgefühl, durchglüht von der liebevollsten Wärme und Innigkeit. Der Trieb zur bildenden Kunst erwachte im Knaben schon früh. Bereits in das vierte Jahr fallen die ersten Versuche zu zeichnen. Für Vater und Sohn war es die höchste Freude, wenn es gelang, einige Pfennige zum Ankauf eines Bilderbogens zu erübrigen. Ein glücklicher Zufall fügte es, daß in dem kleinen Städtchen ein freilich sehr unzu- länglicher Zeichenlehrer, Namens Köhler, lebte, der den talentvollen Knaben unentgeltlich in seinen Unterricht aufnahm. Bald wurde aus dem Schüler der bereitwilligste Gehilfe. Noch jetzt befinden sich auf dem Schießhause zu Pulsnitz einige Scheiben, welche Rietschel in jener Zeit gemeinsam mit seinem Lehrer für das Prämienschießen malte. Rietschel wurde das Factotum für alle Dinge, wo Pinsel und Farbe nötig waren; er malte Modelltücher zum Sticken, kleine Transparente mit Tempel und Opferflammen zu Geburtstagsgeschenken, Wappen und Schilder, Stammbücher und Neujahrswünsche und konnte mit diesem Erwerb schon manches Scherflein in den Haushalt der Eltern legen. Der Unterricht, welchen der Knabe genoß, war der gewöhnliche Unter- richt der Elementarschule; doch durfte er den lateinischen Stunden, welche der Prediger seinen Söhnen erteilte, beiwohnen. Rietschel hat mir mehrmals mit leuchtenden Augen erzählt, wie in dieser engen Jugendzeit die Poesie, die in ihm wohnte, vornehmlich durch die biblischen Psalmen in ihm geweckt und genährt wurde. Nun war die Zeit gekommen, da es galt, einen selbständigen Lebensberuf zu wählen. Gegen die Wahl eines Handwerks sträubte sich seine ganze Seele; er wußte, daß ihm dann keine Muße bleibe, weder für feine Lieblingsneigung des Malens, noch für seinen unaus- löschlichen Drang nach innerer Ausbildung. Eine Zeit lang dachte er daran Schullehrer zu werden; ein geliebter Lehrer riet ab im Hinblick auf die kümmerliche Lage, mit welcher leider auch jetzt noch immer die
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