1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Hermann Hettner.
Nähen und Krankenpflege in fremden Häusern das Ihrige zur Auf-
rechterhaltung und Förderung des kleinen Hausstandes beizutragen.
Wer von Dresden nach Kamenz geht, betrete den dicht an der Straße
liegenden Kirchhof zu Pulsnitz. Sogleich am Eingang desselben, an
der rechten Seite findet er ein Grab, das die sterblichen Reste von
Rietschels Eltern umschließt. Der Sohn hat in kindlicher Liebe das
Grab mit deren Porträtreliefs geschmückt. Es sind ehrsame, schlichte,
tüchtige Bürgergesichter; der Vater hat ganz und gar die Gesichtszüge
seines Sohnes, nur herber und derber. Schöner und tiefempfundener hat
wohl nie ein Sohn seine Eltern verherrlicht. Die Formengebung ist, wie
es in der Natur Rietschels lag, und wie es gerade hier dem Stoff so durch-
aus angemessen war, in der scharfen Individualisierung der altdeutschen
Meister gehalten, aber geläutert und gehoben durch das feinste plastische
Stilgefühl, durchglüht von der liebevollsten Wärme und Innigkeit.
Der Trieb zur bildenden Kunst erwachte im Knaben schon früh.
Bereits in das vierte Jahr fallen die ersten Versuche zu zeichnen. Für
Vater und Sohn war es die höchste Freude, wenn es gelang, einige
Pfennige zum Ankauf eines Bilderbogens zu erübrigen. Ein glücklicher
Zufall fügte es, daß in dem kleinen Städtchen ein freilich sehr unzu-
länglicher Zeichenlehrer, Namens Köhler, lebte, der den talentvollen
Knaben unentgeltlich in seinen Unterricht aufnahm. Bald wurde aus
dem Schüler der bereitwilligste Gehilfe. Noch jetzt befinden sich auf
dem Schießhause zu Pulsnitz einige Scheiben, welche Rietschel in jener
Zeit gemeinsam mit seinem Lehrer für das Prämienschießen malte.
Rietschel wurde das Factotum für alle Dinge, wo Pinsel und Farbe
nötig waren; er malte Modelltücher zum Sticken, kleine Transparente
mit Tempel und Opferflammen zu Geburtstagsgeschenken, Wappen und
Schilder, Stammbücher und Neujahrswünsche und konnte mit diesem
Erwerb schon manches Scherflein in den Haushalt der Eltern legen.
Der Unterricht, welchen der Knabe genoß, war der gewöhnliche Unter-
richt der Elementarschule; doch durfte er den lateinischen Stunden,
welche der Prediger seinen Söhnen erteilte, beiwohnen. Rietschel hat
mir mehrmals mit leuchtenden Augen erzählt, wie in dieser engen
Jugendzeit die Poesie, die in ihm wohnte, vornehmlich durch die
biblischen Psalmen in ihm geweckt und genährt wurde.
Nun war die Zeit gekommen, da es galt, einen selbständigen
Lebensberuf zu wählen. Gegen die Wahl eines Handwerks sträubte
sich seine ganze Seele; er wußte, daß ihm dann keine Muße bleibe,
weder für feine Lieblingsneigung des Malens, noch für seinen unaus-
löschlichen Drang nach innerer Ausbildung. Eine Zeit lang dachte er
daran Schullehrer zu werden; ein geliebter Lehrer riet ab im Hinblick
auf die kümmerliche Lage, mit welcher leider auch jetzt noch immer die