1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
204
Hermann Hettner.
Häuschen auf der Oberseergasse; er teilte seine Stube mit seiner Wirtin,
einer alten Waschfrau; seine Schlafkammer war unter dem niedrigen
Dach ein kleiner Holzverschlag, im Sommer erstickend heiß und bei
schlechter Witterung nicht einmal hinlänglich gegen Regen und Schnee
geschützt. Des Mittags hatte er nichts zu essen, als Obst und Butter-
brot; nur am Sonntag fand er bei einer armen Tante in der Friedrich-
stadt ein dürftiges Fleischgericht. Aber die Fortschritte in der Akademie,
die er mit leidenschaftlichem Eifer besuchte, waren schnell und erlangten
die allgemeinste Anerkennung. Aus der untersten Klasse, in welcher
die meisten Schüler zwei Jahre, viele noch länger zu sitzen pflegten,
wurde er bereits nach neun Monaten in den Gipssaal versetzt. Auf
der Ausstellung erhielt er die damals übliche Geldprämie von 25
Thalern. Das zweite Jahr war mit demselben Erfolg gekrönt; nach
elf Monaten rückte er in den Aktsaal vor und erhielt wieder die Prämie.
Sein wackerer Strebensgenosse und inniger Freund war Julius Thäter,
jetzt Professor der Kupferstecherkunst in München, der ebenfalls ein
Meister ersten Ranges in seiner Kunst geworden ist.
Endlich hatte sich die äußere Lage etwas besser gestaltet. Der
junge Künstler hatte die Aufmerksamkeit der Kunstfreunde erregt, seine
liebenswiirdige Persönlichkeit gewann ihm die Liebe aller. Es wurden
ihm fast für alle Tage der Woche Freitische angeboten; durch Unter-
richtgeben und kleine Nebenarbeiten gelang es auch, für eine etwas be-
haglichere Wohnung sorgen zu können. In diese Zeit füllt das erste
fröhliche Ausschauen nach einer tieferen und allgemeineren wissenschaft-
lichen Bildung, durch welche Rietschel in späteren Jahren sich vor vielen,
selbst berühmten Künstlern sehr vorteilhaft auszeichnete, und welche
leider jetzt die meisten Akademieschüler sträflich vernachlässigen, in der
aberwitzigen Meinung, daß die Bildung ihre Naivetät beeinträchtige.
Zum erstenmal lernte er Goethe, Schiller, Shakespeare und die alten
Dichter mit verständnisvollster Bewunderung kennen. Ein vorgerückterer
junger Künstler, Milde aus Hamburg, führte Rietschel in diese neue
Welt ein. Thäter und einige Monate hindurch auch der Landschafter
Preller aus Weimar, der aber bald Dresden verließ, nahmen an diesen
Studien den innigsten Anteil.
Trotz alledem lagerten über der Aussicht in die Zukunft nach wie
vor die düstersten Sorgen. Es konnte dem talentvollen Jüngling nicht
lange verborgen bleiben, daß sich die Akademie im kläglichsten Zustand
befand. . . . Noch hatte sich Rietschel nicht für einen bestimmten
Kunstzweig entschieden. Er dachte daran, Maler zu werden, aber er
war ohne Hilfe und Rat. . . Ein günstiger Zufall wurde entscheidend.
Der Minister Graf von Einsiedel suchte zur Vergrößerung seines Hütten-
werkes in Lauchhammer einen geschickten Modelleur und entschloß sich,