1900 -
Gera
: Hofmann
- Autor: Henschke, Margarete
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
Vom Reichtum.
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einen grünen Zweig, bemerkt der wohlhabende Philister. Schade nm
den Mann, sagt der Mitleidige, er ist nicht ohne Talent, aber so ent-
setzlich nnpraktisch. Er ist ein Enthnsiast, heißt es znr Linken, und
das Echo znr Rechten ruft: er ist ein bummer Teufel.
Er ist ein dummer Teufel! Wer Mutterwitz hat, der wird ihn
anwenden, um Geld zu verdienen; wer kein Geld verdient, hat keinen
Mutterwitz. Das ist die Logik der Millionäre und der Millionen.
War es nicht Thales von Milet, einer von den sieben Weisen Griechen-
lands, der ans gleichem Grunde in seiner Vaterstadt für einen dummen
Teufel galt, bis er eines Tages — eine große Wahrheit entdeckte?
eine tiefsinnige Lehre verkündete? — Bis er eines Tages eine glück-
liche Ölspeknlation machte. Er war, so scheint es, etwas von einem
Meteorologen oder von einem Botaniker; er hatte das Wetter beobachtet
und die Olivenbänme; er hatte eine Mißernte vorausgesehen und wollte
den Philistern nun einmal zeigen, daß ein Weiser ebenso klug und
klüger sein könne wie sie. Alles Öl, so viel er konnte, kaufte er ans,
und die Olivenernte schlug fehl, und die Preise stiegen, und Thales
von Milet machte ein brillantes Geschäft, und die Leute sagten: Wer
hätte das gedacht! und fingen an, ihn zu respektieren. Die Geschichte
ist vielleicht nicht streng geschichtlich; aber der Freiherr von Liebig ge-
hört ans keinen Fall bloß der Sage an. Der Freiherr von Liebig
erwarb sich mehr als einen europäischen Ruf, nämlich auch einen
amerikanischen, und er fand zahlreiche Verehrer in dem sogenannten
großen Publikum. Er war gerade in dem umgekehrten Falle wie der
alte Weise von Griechenland. Seine Gelehrsamkeit glänzte in Kreisen,
welche sonst von wissenschaftlichen Verdiensten wenig Notiz zu nehmen
pflegen. Und forscht man nach dem Grunde, so wird man finden, daß
er seinen Ruhm mehr den Ölspeknlationen als der reinen Chemie ver-
dankte. Er hatte den richtigen Weg eingeschlagen, um den Leuten
Achtung vor der Forschung beizubringen. Das leuchtete ihnen ein,
wenn man ihnen sagte: sehet da, ein Gelehrter, welcher jährlich so und
so viel tausend Gulden verdient, weil er die Geheimnisse von Stall-
fütternng, die Mysterien der Düngung und die Rätsel der Garnfärberei
versteht! Vor einem solchen Manne zog man den Hut, obwohl, wenn
man's genau nimmt, vor ihm nicht so sehr, wie vor den Gulden, die
er repräsentierte.
Wenn man ans den einzelnen Beobachtungen den allgemeinen
Schluß zieht, wenn man den Leuten ins Gesicht sagt: du und du und
du, ihr achtet das Geld höher als Tugend, Weisheit und Verstand!
so kann man sich ans einstimmigen Protest gefaßt machen. Gott be-
hüte uns vor solcher Roheit! Nein, nein: Armut schändet nicht und
Reichtum macht nicht glücklich! Weisheit und Tugend! Tugend und
M. Henschke, Deutsche Prosa. 21