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1. Deutsche Prosa - S. 324

1900 - Gera : Hofmann
324 Otto Gildemeister. sich von selbst versteht, vollauf Kuchen und Naschwerk haben. Ohne das würden sie nicht an eine höhere Gerechtigkeit glauben. Wie die Jungen zwitschern, so singen die Alten. In den Romanen, welche das Publikum verschlingt, ein Publikum von Rittergutsbesitzern, Laden- dienern, Gräfinnen und Kammerjungfern, ist das gute Ende unwandel- bar ein voller Geldbeutel. Vor vierzig Jahren las Europa bei Tag und bei Nacht die Mystöres de Paris, den Juif Errant, mit einem Worte die Sensationsromane sozialistischer Konfession, in denen die armen Leute lauter Biedermänner und die reichen Leute lauter Spitz- buben sind und das Eigentum der Diebstahl ist. Sonderbar! auch diese dem Mammon so fanatisch feindseligen Tendenzwerke schlossen regelmäßig mit dem versöhnenden Klange unzähliger Zwanzigfranken- stücke. Die armen Biedermänner verwandelten sich auf mehr oder minder unwahrscheinliche Weise in Renteninhaber und Besitzer reizender Landhäuser, zu nicht geringer Erbauung der gesamten Leserwelt, ein- schließlich der Kommunisten und Sozialisten. Freilich beruhigte der Dichter sein Gewissen damit, daß er die beglückten Helden als wahre Ungeheuer von Großmut und Wohlthätigkeit schilderte, als Leute, welche Arbeiterpaläste und Volksküchen und Fabriken mit dreifachem Wochen- lohn stifteten, aber er gönnte den Edlen daneben doch auch alle An- nehmlichkeiten, welche das Dasein großer Kapitalisten zu verschönen pflegen. Heutzutage ist es der solide englische Roman, welcher den Markt beherrscht, vermutlich also den Geschmack der Kunden trifft. Der eng- lische Roman gewöhnlichen Schlages hat drei Bände, und der dritte Band hat ein Kapitel, in welchem der erste Held und Liebhaber Lord oder Baronet oder dergleichen wird und dazu die obligaten Tausende von Pfunden Sterling jährlich angewiesen erhält. Dabei geht alles sehr „genteel" zu. Der Held heiratet zum Beispiel nur nach Neigung, mit fast unverantwortlicher Hintansetzung finanzieller Rücksichten, aber es trifft sich immer so, daß die mitgiftlose Braut zur rechten Zeit einen steinreichen Onkel beerbt oder einen alten Familienprozeß gewinnt oder als Tochter eines Grafen entlarvt wird. Der Dichter schenkt dem jungen schönen Paare alle die goldenen Früchte, die am üppigsten im Schmutze gedeihen, aber den Anbau dieses Schmutzes überläßt er den eigens dazu angestellten Bösewichtern und Intriganten. Das gefällt dem Leser un- säglich, der auf diese Art Gelegenheit findet, zu gleicher Zeit an dem Anblick des Edelmuts und des weltlichen Glückes sich zu weiden, — ein Doppelgenuß, den das Leben selten gewährt. Denn der Mensch will die Tugend wohl, aber die Tugend soll ihn auch glücklich machen, und zwar zunächst reich. Von diesem Ge- sichtspunkte ans könnte man alle poetischen Werke in zwei Hauptklassen
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