1914 -
Leipzig [u.a.]
: Teubner
- Autor: Keller, Ernst, Heydtmann, Johannes
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Oberlyzeum, Studienanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
Gottfried Keller: Gedichte
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25 Es will vielleicht betäuben
die Nacht den uralten Schmerz?
Und an noch ältere Sünden
denkt wohl ihr reuiges Herz?
Ich möchte mit ihr plaudern,
30 wie man mit dem Liebchen spricht —
umsonst: in ihren: Grame
sie sieht und hört mich nicht!
Ich möchte sie gern befragen
und werde noch immer gestört:
35 ob sie vor meiner Geburt schon
wo meinen Namen gehört?
Sie ist eine alte Sibylle
und kennt sich selber kaum;
sie und der Tod und wir alle
40 sind Träume von einem Traum.
Ich will mich schlafen legen,
der Morgenwind schon zieht; —
ihr Trauerweiden am Kirchhof,
summt mir n:ein Schlummerlied!
2. Abendregen.
Langsam und schimmernd fiel einregen,
in den die Abendsonne schien;
der Wandrer schritt auf schmalen Wegen
mit düstrer Seele drunter hin.
5 Er sah die großen Tropfen blinken
im Fallen durch den goldnen Strahl;
er fühlt' es kühl aufs Haupt ihm sinken
und sprach mit schauernd süßer Qual:
„Nun weiß ich, daß ein Regenbogen
io sich hoch um meine Stirne zieht,
den auf dem Pfad, so ich gezogen,
die heitre Ferne spielen sieht.
Und die mir hier am nächsten stehen
und wer mich wohl zu kennen meint,
sie können selber doch nicht sehen,
wie er versöhnend ob mir scheint.
So wird, wenn andre Tage kamen,
die sonnig auf dies Heute sehn,
um meinen fernen, blassen Namen
des Friedens heller Bogen stehn."
3. Stiller Augenblick.
Fliehendes Jahr, in duftigen Schleiern
streifend an abendrötlichen Weihern
wallest du deine Bahn;
siehst mich am kühlen Waldsee stehen,
wo an herbstlichen Uferhöhen
zieht entlang ein stummer Schwan.
Still und einsam schwingt er die Flügel,
tauchet in den Wasserspiegel,
hebt den Hals empor und lauscht;
taucht zum andernmale nieder,
richtet sich aus und lauschet wieder,
wie's im flüsternden Schilfe rauscht.
Und in seinem Tun und Lassen
will's mich wie ein Traum erfassen,
als ob's meine Seele wär',
die verwundert über das Leben,
über das Hin- und Widerschweben
lugt' und lauschte hin und her.
Atme nur in vollen Zügen
dieses friedliche Genügen
einsam auf der stillen Flur!
Und hast du dich klar empfunden,
mögen enden deine Stunden,
wie zerfließt die Schwanenspur!
4. Aus der Feueridylle.
(Ein einsamer Bauernhof brennt in der Nacht nieder: „auch der Poet, er watschelt mit
hinaus".)
a) (Viii.)
Welch lieblich Wunder nimmt mein Auge wahr?
dort fließt ein Brünnlein, gar so frisch und klar;
ein holzgeschnitzter Meergott gießt den Trank
in eine ausgehöhlte Eichenbank.