1914 -
Leipzig [u.a.]
: Teubner
- Autor: Keller, Ernst, Heydtmann, Johannes
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Oberlyzeum, Studienanstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
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Neue Strömungen
3. An seine Frau.
Blainville (zwischen Luneville und Nancy), den 1. Oktober 1870.
Geliebte Frau.
Meine Karten aus Weißen bürg und Sulz hast Du hoffen tlich erhalten. Ich verließ
Sulz gestern mittag in einem großen Militärzug, 54 Wagen, auf denen sich Ge-
5 heilte und Genesene aller möglichen Regimenter befanden, Garde, Brandenburger,
Schlesier, Sachsen, Hessen, auch ein Unteroffizier aus Rostock.
Die Fahrt war schön, die Abendfahrt von Savern („Ergeben der Gebieterin"),
an der jungfräulichen Pfalzburg vorbei bis Saarburg geradezu entzückend. Der Weg
führt durch die Vogesenberge hindurch; acht Tunnel werden passiert, und am
io Eingang und Ausgang jedes Tunnels lag eine Württembergische Feldwache, sitzend
oder hockend um mächtige Feuer herum, die mit dem Holz der umherstehenden Tannen
unterhalten wurden. Kostbare Salvator Rosas! Die Berge im engsten Zirkel alles
umrahmend, auf den Bergen alte Burgruinen und über den Ruinen der tiefblaue
Himmel mit seinen glitzernden Sternen. Diese Feldwachen haben den Zweck, die
i5 Bahn an dieser wichtigen und gefährlichen Stelle zu schützen.
Die Nacht über lag der Zug in Saarburg fest; wir biwakierten im Coupe, schliefen
bis vier Uhr, wo uns die Reveille weckte, nahmen dann Kaffee und Absinth in einem
Hotel siebenten Ranges und brachen um sechs Uhr aus. Der Weg ging über Lune-
ville, wo wir eine halbe Stunde hielten; jetzt liegen wir bei Blainville und warten
2o den Postzug ab, der uns in einer Stunde nach Nancy führen soll. Neben uns liegt
ein langer Zug bayrischer Artillerie, schweres Feldgeschütz (Zwölfpfünder), die von
Würzburg kommen und direkt bis Paris gehen. Ich habe mit den Bayern hier
Freundschaft geschlossen. Ich finde sie nett, gutmütig, einzelne sogar unterrichtet;
neben mir auf einem krümelbedeckten, etwas eingefetteten Tisch schreiben zwei Ar-
25 tilleristen Briefe in die Heimat, auf Papier, das ich ihnen samt englischen Kuverts
geschenkt habe. Das ließ sich Mr. Marington auch wohl nicht träumen, als er mir
die Kuverts kaufte.
Die ganze Reise, wenn es so fortgeht, ist im höchsten Maße lehrreich, interessant
und geradezu erhebend. Alles hat einen großartigen Charakter. Es ist eine orga-
gonisierte Völkerwanderung. Immer neue Massen überschwemmen das Land,
dessen Bevölkerung staunt und kopfschüttelt, aber in ihrem Dünkel, vielleicht selbst
in ihrer kindischen Hoffnung auf Sieg, ungebrochen ist. Es heißt jetzt, daß eine neu-
sormierte große Armee von Straßburg gegen Lyon vorrücke. Vielleicht ist es ein
Irrtum; bekanntlich weiß man auf dem Kriegsschauplätze selbst am wenigsten, was
35 geschieht.
Grüße alle Freunde, küsse die Kinder! Wie immer Dein
Th. F.
4. An seinen Sohn Theodor.
Berlin, d. 2. November 1889.
Mein lieber Theo.
Morgen ist Hubertustag. Hubertus jagte; da stand plötzlich die Jungfrau
Maria zwischen dem Geweih des Elf-Enders, und Hubertus kniete nieder und betete