1887 -
Berlin
: Springer
- Autor: Cauer, Paul
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Gymnasium
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
Über Laokoon.
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Auge als ein Zierat erscheint. Die alten Vasen geben uns hundert Bei-
spiele einer solchen anmutigen Gruppierung, und es würde vielleicht möglich
sein, stufenweise von der ruhigsten Vasengrnppe bis zu der höchst bewegten des
Laokoon die schönsten Beispiele einer symmetrisch künstlichen, den Angen ge-
fälligen Zusammensetzung darzulegen. Ich getraue mir daher nochmals zu
wiederholen, daß die Gruppe des Laokoon neben allen übrigen anerkannten
Verdiensten zugleich ein Muster sei von Symmetrie und Mannigfaltigkeit,
von Ruhe und Bewegung, von Gegensätzen und Stnfengängen, die sich zu-
sammen teils sinnlich teils geistig dem Beschauer darbieten, bei dem hohen
Pathos der Vorstellung eine angenehme Empfindung erregen und den Sturm
der Leiden und Leidenschaft durch Anmut und Schönheit mildern.
Es ist ein großer Vorteil für ein Kunstwerk, wenn es selbständig, wenn 15
es geschlossen ist. Ein ruhiger Gegenstand zeigt sich bloß in seinem Dasein; er
ist also durch und in sich selbst geschlossen. Ein Jupiter mit einem Donner-
keil im Schoß, eine Juno, die auf ihrer Majestät und Franemvürde ruht,
eine in sich versenkte Minerva sind Gegenstände, die gleichsam nach außen
keine Beziehung haben; sie ruhen auf und in sich und sind die ersten, liebsten
Gegenstände der Bildhauerkunst. Aber in dem herrlichen Zirkel des mythischen
Kunstkreises, in welchem die einzelnen selbständigen Naturen stehen und ruhen,
chebt es kleinere Zirkel, wo die einzelnen Gestalten in Bezug auf andere
gedacht und gearbeitet sind. Z. E. die neun Musen mit ihrem Führer
Apoll, ist jede für sich gedacht und ausgeführt, aber in dem ganzen mannig-
faltigen Chor wird sie noch interessanter. Geht die Kunst zum leidenschaftlich
Bedeutenden über, so kann sie wieder auf dieselbe Weise handeln: sie stellt
uns entweder einen Kreis von Gestalten dar, die untereinander einen leiden-
schaftlichen Bezug haben, wie Niobe mit ihren Kindern, verfolgt von Apoll
und Diana, oder sie zeigt uns in Einem Werke die Bewegung zugleich mit
ihrer Ursache. Wir gedenken hier nur des anmutigen Knaben, der sich den
Dorn ans dem Fuße zieht, der Ringer, zweier Gruppen von Faunen und
Nymphen in Dresden, und der bewegten herrlichen Gruppe des Laokoon.
Die Bildhauerkunst wird mit Recht so hoch gehalten, weil sie die Dar- 16
stellung auf ihren höchsten Gipfel bringen kann und muß, weil sie den
Menschen von allem, was ihm nicht wesentlich ist, entblößt. So ist auch
bei dieser Gruppe Laokoon ein bloßer Name; von seiner Priesterschaft, von
seinem Trojanisch-Nationellen, von allem poetischen und mythologischen Bei-
wesen haben ihn die Künstler entkleidet; er ist nichts von allem, wozu ihn
die Fabel macht, es ist ein Vater mit zwei Söhnen, in Gefahr, zwei gefähr-
lichen Tieren zu unterliegen. So sind auch hier keine göttergesandten, sondern
bloß natürliche Schlangen, mächtig genug, einige Menschen zu überwältigen.