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1. Teil 7 = (Für Prima) - S. 279

1906 - Leipzig : Freytag
279 In erster Beziehung ist freilich ein Konflikt zu berücksichtigen. Die Lust aus direkter Anschauung von Schönheit und Anmut dessen, was wir vor uns sehen, kann die Unlust aus dem Widerspruche, der in Verletzung der Wahrheits- sorderung liegt, überbieten, zumal wenn die Kunstgewöhnung solchen nicht mehr fühlbar macht; und in der Tat hat Kunstgewöhnung uns in dieser Hinsicht viel vertragen gelehrt, fraglich, ob nicht zu viel, und ob nicht eine künftige Kunstgewöhnung die jetzige in dieser Hinsicht rektifizieren wird. Man traue doch der jetzigen nicht gar zu sehr, und sollte überhaupt mehr als es geschieht, überlegen, ob nicht manches, was man für Sache der Kunst- berechtigung hält, nur Sache einer Kunst gewöhn ung ist, die besser durch eine andere vertreten würde. Es frommt der allgemeinen Geistesbildung nicht, den an sich berechtigten höheren Reiz, der in anschaulicher Erfüllung der Wahrheitssorderung liegt, dem Reize an sich schöner aber unwahrer Form- gebung nachzusetzen; wer sich daran gewöhnt, büßt dadurch an Empfänglichkeit selbst für jenen Reiz ein, und verliert im ganzen mehr und Besseres als er durch die falsche Gewöhnung von andrer Seite gewinnt. Mit all dem aber bleibt folgender Gegenrücksicht Raum: Die Wahrheitsforderung ist der Kunst mit der Wissenschaft gemein, aber für beide von verschiedenem Gewicht. In der Wissenschaft ist ihre Erfüllung wesentlicher Zweck und um jeden Preis von ihr anzustreben, mag sie gefallen oder nicht gefallen; der Kunst ist sie nur ein Hauptmittel zum Zweck, was nie anders als nach untergeordneten Beziehungen andern Mitteln weichen sollte, doch wirklich nach solchen einer Übermacht anderer weichen darf. Zuzugestehen ist, daß eine bestimmte Grenze in dieser Beziehung nicht festzustellen ist, man kann eben nur im allgemeinen sagen, es muß dann geschehen, wenn Vorteile der Verletzung ihre Nachteile überwiegen. Das kann sich für verschiedenen Ge- schmack verschieden stellen, und gehört zu den Fällen, wo es nicht leicht oder möglich ist, über die größere oder geringere Berechtigung des einen oder andern Geschmackes zu entscheiden; indes man sich doch immer der dabei abzuwägenden Gründe bewußt werden kann. Betrachten wir zunächst nur ein Beispiel. In der Pieta von Michel Angelo hält eine sitzende Madonna den Christus- leichnam auf dem Schoße liegend. In der Pieta von Rietschel hat eine knieende Madonna den Christusleichnam gerade vor sich liegen. Beide Werke lassen sich im Leipziger Museum gut vergleichen, indem sie sich an den entgegen- gesetzten Enden des Saales gegenüberstehen. Beides sind Werke von großer Schönheit, jedes nur in anderem Sinne, woraus hier nicht ausführlich ein- zugehen, um nur folgenden Punkt ins Auge zu fassen. Trotzdem, daß das Ver- hältnis des Christus zur Madonna in der Pieta von Rietschel naturwahrec als in der von Michel Angelo ist, wird man es doch in letzterem Werke ent- schieden schöner als in ersterem finden, indem der Vorteil der Naturwahrheit dort durch andere Vorzüge hier überwogen wird. In der Pieta von Rierschel ist der Christusleichnam der eines voll ausgewachsenen Mannes, welcher sein natiirliches Größenverhältnis zur Madonna hat. In der Pieta von Michel
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