1911 -
Leipzig
: Dürr
- Autor: Lorentzen, Theodor, Meyer, Alfred Gustav, Weise, Paul, Rode, Albert, Nagel, Louis
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt, Oberrealschule, Realgymnasium, Realschule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
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B. ten Brink, Shakespeare, der Dichter und der. Mensch.
gefüllt und nicht nur die Schriftsteller seiner eigenen Nation, sondern
auch manche große Geister der alten Welt und des Auslandes — zumal
Italiens — wenn auch zum großen Teil nur aus zweiter Hand, in
Übersetzungen und Nachbildungen, kennen gelernt. Damals ist Shake-
speare sich klar geworden über seinen eigentlichen Beruf und ist dem-
jenigen Institut zugeführt worden, dessen Zukunft mit der seinigen un-
zertrennlich verbunden war. Ohne Zweifel hat Shakespeare, wie die
Tradition uns lehrt, beim Theater von der Pike aus gedient und sich
erst allmählich zu einer höheren Stellung als Schauspieler und als
Schanspieldichter emporgeschwungen. Bereits im Jahre 1592 gilt er für
das Faktotum der Gesellschaft, der er angehörte.
Unter den zahlreichen Torheiten, welche die Baeonianer sich zu-
schulden kommen lassen, ist die größte wohl die, daß sie die Größe und
Tiefe von Shakespeares Dichtungen mit seiner Stellung als Schau-
spieler und Schauspielnnternehmer nicht vereinbar finden. Als ob der
größte Dramatiker aller Zeiten ohne die genaueste Kenntnis der Bühne,
wie sie nur durch vieljährige Praxis erworben wird, auch nur zu denken
wäre. Und wie zeigt sich Shakespeare mit der Bühne verwachsen, wie
liebt er es, das Leben unter dem Bilde des Schauspiels und um-
gekehrt wieder das Schauspiel unter dem Bilde des Lebens anzuschauen!
Wie genau kennt er die Leistungsfähigkeit des Schauspielers und die
Bedürfnisse des Zuschauers! Warum gibt es bei Shakespeare keine un-
dankbaren Rollen? Warum wirkt auch die üppige Fülle der Diktion
und der verschlungene Gang tiefer Reflexion bei ihm dramatisch?
Weil er die Bühne kennt, weil er, indem er seine Szenen schreibt,
nicht nur seine Gestalten lebendig vor sich sieht, den Ton ihrer Stimme
hört, ihr Mienenspiel und ihre Gesten sieht, sondern weil manchmal
sogar diese Gestalten vor seinem geistigen Auge die vertrauten Züge be-
stimmter Schauspieler an sich tragen.
Das, was Shakespeares Werken ihr einzigartiges Gepräge aufdrückt,
jene Verbindung von tiefstem, unvergänglichem Gehalt und höchster
momentaner Wirksamkeit, erklärt sich eben nnr daraus, daß der Dichter
der Bühne ganz und gar angehörte, in seiner Tätigkeit für das Theater
seinen Lebensbernf antrat und doch wieder mit seinem Denken und
Sinnen weit über den begrenzten Horizont der leichten Bretterwell
hinausdrang. Und auch hier bietet seine Biographie uns charakteristische
Züge, die uns in sein Inneres einen Blick werfen lassen. Vom Jahre 1592
bis zum Jahre 1599 sehen wir den Dichter die Höhe seiner Kunst er-
steigen und zugleich in der Kunstwelt und in der Gesellschaft sich eine ge-
sicherte, allgemein anerkannte Stellung erobern. Im ersten Jahrzehnt des
siebzehnten Jahrhunderts schafft er dann seine tiefsten, großartigsten Werke.
Aber noch bevor er den Höhepunkt erreicht, sehen wir ihn die ersten
Schritte tun, um sich für seine späteren Jahre in seiner Geburtsstadt