1911 -
Leipzig
: Dürr
- Autor: Lorentzen, Theodor, Meyer, Alfred Gustav, Weise, Paul, Rode, Albert, Nagel, Louis
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt, Oberrealschule, Realgymnasium, Realschule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
R. Schwemer, Das Kaisertum Karls des Großen.
323
Behauptung derselben zur Pflicht zu machen. Diese Kräfte und Be-
strebungen aber nehmen die Vorstellung des großen Ziels, so wie das
Bewußtsein, daß ihre Tätigkeit zur Erreichung desselben unerläßlich ist,
mit sich auf den Weg. Dies genügt ihnen, damit ist ihre Selbstsucht
abgefunden, und jetzt reflektieren, fragen und zweifeln sie nicht, sondern
sie handeln und handeln mit ganzer Hingebung, unermüdlicher Ausdauer,
voller Energie.
So läßt sich der römische Charakter mit seinen Tugenden und
Fehlern als das System des disziplinierten Egoismus bezeichnen. Der Haupt-
grundsatz dieses Systems ist, daß das Untergeordnete dem Höheren, das
Individuum dem Staat, der einzelne Fall der abstrakten Regel, der Mo-
ment dem dauernden Zustand geopfert werden müsse. Diese Anforderung,
objektiv in der Tat nichts als ein Ausfluß der Zweckmäßigkeitsidee, ist
durch die nationale Ansicht zur ethischen Notwendigkeit, Sittlichkeit,
Pflicht gestempelt, und die gewaltige moralische Kraft des römischen
Volkes bewährt sich vor allem an der Bereitwilligkeit, mit der es sich
diesem, wenn ich so sagen darf, konventionellen Pflichtenkodex fügt,
sich der durch die bloße Nützlichkeitsidee diktierten Notwendigkeit unbe-
dingt unterwirft. Sich felbst zu bezwingen ist schwerer als andere. Ein
Volk, dem bei der höchsten Freiheitsliebe dennoch die Tugend der
Selbstüberwindung zur zweiten Natur geworden, ist zur Herrschaft über
andere berufen. Aber der Preis der römischen Größe war freilich teuer.
Der unersättliche Dämon der römischen Selbstsucht opfert alles seinem
Zweck, das Glück und Blut der eigenen Bürger, wie die Nationalität
fremder Völker. Gemüt und Phantasie schrecken vor seinem eisigen Hauch
zurück, die Grazien fliehen seine Nähe, für ihn selbst hat nur Wert,
was Zweck oder Mittel zum Zwecke ist. Die Welt, die ihm gehört, ist
frostig, der schönsten Güter beraubt, eine Welt der abstrakten Maximen
und Regeln — eine großartige Maschinerie, bewundernswürdig durch
ihre Festigkeit, die Gleichmäßigkeit und Sicherheit, mit der sie arbeitet,
durch die Kraft, die sie entwickelt, alles zermalmend, was sich ihr wider-
setzt, aber eben eine Maschine; ihr Herr war zugleich ihr Sklave.
36. Pas Kaisertum Karts des Großen.
Richard Schwemer, Papsttum und Kaisertum- (Stuttgart, Verlag der I. G.
Cottaschen Buchhandlung Nachf. 1899.)
Das römische Reich war an innerer Enkkrüftung, an Verödung zu-
grunde gegangen, nicht durch die Germanen.
Das siegreiche Eindringen der Germanen war nur ein Symptom
des Unterganges gewesen, nicht die Ursache. Ihr Einbruch hatte natür-
lich Heimsuchung und Zerstörung mit sich gebracht, denn sie kamen als
Eroberer; allein kaum in Besitz, wurden sie zu Verteidigern des Reiches
21 *