1911 -
Leipzig
: Dürr
- Autor: Lorentzen, Theodor, Meyer, Alfred Gustav, Weise, Paul, Rode, Albert, Nagel, Louis
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt, Oberrealschule, Realgymnasium, Realschule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
R. Linde, Niederelbische Landschaft.
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das Auge blickt, Bilder plastischer Art von altem Reiz: die Gänse, die
Schafe mit den Lämmern, die Rinder, weidend oder im Grase ruhend, die
Rosse am Gatter, den schlanken Hals aneinander geschmiegt. Bei weitem
das schönste Tierbild ist der junge Stier, wie er mit dumpfem Stöhnen
und heißem Atem den Priel durchwatet, oder auch, wie er ruhig am
Gatter steht, den Kopf erhoben, Nacken und Rücken eine gerade Linie,
die Schenkel gestemmt, ein Bild starrer, gebundener Urkraft.
Der schweigende Mittag zeigt den besonderen Charakter jeder Land-
schaft gesteigert. Niemals wirkt das Waldweben geheimer, die blühende
Heide traumverlorener, die südliche Felsenlandschast sonnendurchglühter
als am Mittag. So tritt auch in der Marschlandschaft das Plastisch-
Gebundene am Mittag am stärksten hervor. Gänzlich fehlt das geheimnis-
volle Raunen der Blätter. Wie leblos stehen Eschen und Weiden, kein
Hauch in dem starren Schilf, Roß und Rind wie aus Bronze geformt,
die Schafe lagern bewegungslos am Prielufer, die Enten schlafen am
Deich, nur unmerklich rinnt das Prielwasser aufwärts.
Der Mittagsstille ist der Mondzauber verwandt. Auch dann be-
gegnet uns ein ähnliches Bild bewegungsloser Plastik. Jede Einzelheit
des Laubwerkes ist verschwunden, die blauen Baumgestalten wirken als
körperhafte Massen, nur auf dem spiegelnden Schilfwasser glitzert ein
wirres Spiel, Ring an Ring auftauchend und gibt Kunde von dem
geheimnisvollen Leben der Tiefe.
Bisweilen erscheint der plastisch monumentale Charakter der Land-
schaft geradezu ins Stilisierte gesteigert. Bei der ausgeprägten Eben-
flächigkeit und Bodengleichheit lag für den bauenden Menschen nirgends
ein Grund vor, von der mathematisch kürzesten geraden Linie abzugehen,
und so ist jeder Graben, jeder Weg, jede Furche, jede Hecke, jede Straße
geradlinig. Dazu tritt die Regelmäßigkeit der Linie in dieser Kultur-
landschaft. Das Zufällige fehlt. Gleichweit laufen die Ackerstücke, in
gleicher Entfernung sind Bäume, Büsche und Stauden gepflanzt. Auch
Haus und Hof zeigen die gleiche gebundene Linienführung. Geradlinig
der Hausgraben, die Weiden-, Pappeln- und Eschenpslanzungen, Garten
und Beete geometrisch abgeteilt, steife Wacholder- und Lebensbäume
drinnen oder bunte Glaskugeln auf hohen Stäben. Eine geradlinige
Allee beschnittener Bäume führt auf die Hadler Höfe, beschnittene
Schutzbüume umgeben die Front und spiegeln sich, die Wirkung ver-
stärkend, mit den Bäumen und Büschen des Gartens im Hausgraben
wieder. Auch das Haus selber ist in Form gebunden, schematisch das
Balkonwerk, das Sckffteinmofaif; bald Zickzackmuster, die über die
Hausfront hinlaufen, bald vielgestaltige Einzelmuster wie Teppichgewebe
zwischen dem Balkengefüge. So namentlich im Alten Lande. Hwrher
gehört auch das besonders stilisiert wirkende Bild der vielen Mühlen,
namentlich der Wilstermarsch, die sich in langer Reihe und regelmäßigem
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