1911 -
Leipzig
: Dürr
- Autor: Lorentzen, Theodor, Meyer, Alfred Gustav, Weise, Paul, Rode, Albert, Nagel, Louis
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt, Oberrealschule, Realgymnasium, Realschule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Prosahest Vii.
hm in dunkles Violett bis Ultramarin wandelt und das Fleetwasser
das weiche Farbenspiel umgekehrt wiederholt. Das hat noch kein Maler
gemalt. Und wieder durch die Staubfülle erklärt es sich, daß gerade
die Sonnenuntergänge in dem Wasserdunst des Hafens von unvergleich-
licher Schönheit sind. Sie können bisweilen in ihrer Leuchtkraft an die
Farbenschönheit der Sonnenuntergänge nach dem Krakatoaausbruch er-
innern. Und da ein gnädiges Schicksal den Elbbusen nach Sonnenunter-
gang richtete, im Gegensatz zur Trave, der Kieler Föhrde oder der Themse,
so spiegeln Welle und Strom den Lichtzauber wider. Daher kommt
es, daß Abend für Abend sich ein glühendes Lichtmeer in den Strom
ergießt und zur Winterszeit zwischen den blauen Eismassen Ströme
rieselnden Goldes erglänzen, auf denen die lichtumsponnenen Silhouetten
ankommender Dampfer langsam Heraugleiten, umschwärmt von Hunderten
von Möven. So kommt auch das Gegenlicht zu seinem Rechte. Und
wieder aus jenem Wasserreichtum der Atmosphäre erklärt sich die Größe
der Wolkenbilder. In ungebrochener Kraft schieben sie sich vom nahen
Meere her. Gerade zur Herbstzeit kaun man sie in riesiger Größe über
dem Elbbusen aufsteigen sehen, oft nur eine einzige Wolke, einem grauen
Riesengeier gleich, der, zum Zenith sich hebend, mit gestreckten Fängen
die Himmelswölbung umklammert. Oder es gleißt und flackert stunden-
lang hinter den dichten Wolkenschichten von geheimem Leben.
Zu diesen mehr allgemeinen Merkmalen in Linien und Farben
treten Einzelbilder, die es nur hier geben kann. Dahin gehören vor
allem die Deichbilder des Wasserlandes. Schon an und für sich ist der
Deich von hohem Reiz mit seinem Idyll der weidenden Schafe und
Ziegen, der Rinder und Rosse, der spielenden Kinder, der hangenden
Fischernetze, der Gatter und Treppen, der weißgestrichenen Bänke, wo
abends die Mädchen sitzen und der Wind erfrischend über den Strom
weht. Man muß einmal im Herbst und Hochsommer die Nebendeiche
sehen, nicht wenn sie „schaubar" gemacht worden sind, sondern kurz
vorher. Dann sind sie erst in Wahrheit „schauenswert", meterhoch mit
malerischem Unkraut bedeckt, Rainfarn, Schafgarbe und Glockenblumen.
Nur im Salzwassergebiet ist der Deich kahl, im Süßwassergebiet da-
gegen von Eschen und Weiden begleitet, an den Nebendeichen mit
Kastanien-, Wallnuß- und anderen Fruchtbäumen bepflanzt, deren Herbst-
segen in schwerer Fülle über dem Wanderer hängt. Der Höhepunkt
dieser niederelbischen Fruchtbaumlandschast ist der Lühe-, Este- und
Krückaudeich zur Zeit der Obstblüte. Eine Mondnacht oder ein sonniger
Morgen, wenn die Milliarden weißer Blüten, von Bienen umsummt, sich
im Wasser spiegeln, hat seinesgleichen nicht in Deutschland.
Da mm der Deich wie ein gleichmäßig erhöhter Weg das ganze
Wasserland durchzieht, so öffnet sich der Blick nach beiden Seiten in
die Wildnis des Außendeichs und die Gartenlandschaft des Binnen-