1911 -
Leipzig
: Dürr
- Autor: Lorentzen, Theodor, Meyer, Alfred Gustav, Weise, Paul, Rode, Albert, Nagel, Louis
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt, Oberrealschule, Realgymnasium, Realschule
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Prosaheft Vil
Dies geschah erst 1864 mit dem Tode Friedrichs Vii. Jetzt galt
es zu handeln, jetzt war Schleswig-Holstein auch für den Zuschauer
wieder „in Szene gesetzt". Mit einem Schlage erwachte die alte Be-
geisterung aufs neue, und man vernahm das — für kurze Zeit — ganz
wahre Wort: daß fortan in Sachen Schleswig-Holsteins alle Partei
unter den Deutschen aufhöre, daß nur eine öffentliche Meinung bestehe.
Übrigens hatte sich der allgemeine Standpunkt gegen früher nun-
mehr völlig umgekehrt. Von 1845—48 half Schleswig-Holstein den
Gedanken der strafferen deutschen Einigung wecken; 1864 hingegen war
es das seit dem italienischen Krieg immer dringender gewordene Streben
nach dem deutschen Bundesstaate, dem Reich, welches die gebildete Masse
für Schleswig-Holstein begeisterte. Das Mittel war Zweck; die mut-
maßliche Folge war Herr geworden über die bewegende Ursache. Preußen
benutzte diesen Umschwung der öffentlichen Meinung mit großem Scharf-
blick. Es zerhieb den Knoten der Rechtsfrage mit dem Schwerte, es
zerhieb zugleich das Recht, wofür es anscheinend stritt. Die Erbfolge
des Augustenbnrgischen Hauses wurde beseitigt und die politische Selb-
ständigkeit der verbundenen Herzogtümer obendrein. Was tausend
Rechtsdeduktionen verlangt hatten, das wurde nicht erfüllt; aber was
im Liede gesungen war, was die Gefühlspolitik der deutschen Volks-
stimme gefordert hatte, das erfüllte sich. Das meerumschlungene Land
blieb „deutscher Sitte hohe Wacht"; ungeteilt blieb die „Doppeleiche unter
einer Krone Dach", „das Vaterland wankte nicht", — alles, wie's im Liede
steht; der Dänentrotz war gebrochen, die fremden Einspruchsgelüste be-
seitigt, dem deutschen Reiche, der deutschen Seemacht eine neue Zukunft
vorbereitet. Zwar in den Herzogtümern vergaß man nicht sofort das
genaue Recht, um das man eigentlich gekämpft hatte; aber das allgemeine
Ziel war erreicht, der nationalen Begeisterung ein Genüge getan, und
also beruhigte sich auch die öffentliche Meinung. Sie schloß ab mit
ihrem „Schleswig-Holstein", weil die ungelöste Rechtsfrage, unverständ-
lich für die meisten, mit dem Nordbunde, mit dem neuen Reich abschloß,
wofür man im Herzen ein Verständnis fand.
Und nun wiederhole ich meinen Satz: „Die Politik des Verstandes
muß sich erst zur Gefühlspolitik verdunkeln und verklären, um von der
öffentlichen Meinung durchgreifend erfaßt zu werden." Er wird jetzt
nicht mehr paradox erscheinen.
Ich spreche da ein verspottetes und verpöntes Wort gelassen aus
— Gefühlspolitik!
Als den wahren Drachentöter der deutschen Gefühlspolitik nennt
man den Fürsten Bismarck. Er soll die reine Realpolitik an ihrer Statt
auf den Thron gehoben haben, die Staatskunst, welche nur auf Tat-
sachen fußt, mit Tatsachen rechnet, nicht mit Stimmungen, Gefühlen,
Leidenschaften. Und wirklich ist er der große Realpolitiker; er wurde