1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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Ist es bedroht von Unglücksblitzen,
Dann nimm es lieber wieder heim,
Doch winkt ihm Heil, so woll' ihn schützen
Den kleinen großen Menschenkeim!
Karl Egon von Ebert.
Der Zaunkönig.
Zu den glücklichen Vögeln, welche jedermanns Liebe genießen,
gehört auch der allbekannte, sagennmklungene Zaunkönig oder Schlüpfer,
Winter-, Schnee-, Dorn-, Nessel-, Schlupf-, Schupp- und Tannen-
könig, Zannschnerz, Zaunschliefer und Thomas im Zaune, ein kleines,
prächtiges Vögelchen, welches schwerlich verkannt werden dürfte. Der
reich befiederte Leib hat sehr kurze Flügel und einen kurzen Stumpf-
schwanz, welcher regelmäßig aufrecht getragen wird, lange, starke
Füße und einen dünnen, pfriemförmigen, etwas gebogenen Schnabel.
Beide Geschlechter sind gleichmäßig gefärbt und die Jungen kaum
anders als die Alten gezeichnet. Die Oberseite ist rostbraun, vom
Oberrücken an schwärzlich quer gebändert, die Unterseite ist rostgrau,
an den Seiten schwärzlich und weißlich in die Quere getupft. Die
Flügel und der Schwanz sind zierlich schwarz gebändert, die Achsel-
gegend ist mit einigen weißen Flecken besetzt, und über das helle Ange
zieht sich, der Braue vergleichbar, ein lichter Streifen, durch dasselbe
ein dunklerer.
Soviel man weiß, fehlt der Zaunkönig in keinem Lande Europas;
doch scheint es, als ob er im Norden häufiger wäre, als im Süden.
In Deutschland wohnt er überall, wo es dichtes Gebüsch, namentlich
dichte Hecken giebt. Seine kurzen Flügel gestatten ihm nicht, mit den
anderen Kerbtierfressern zu wandern; er bleibt daher hübsch in der Hei-
mat und bekundet durch sein Betragen, daß es ihm auch im Winter in
derselben gefällt. Er verdient wirklich den Namen Schnee- oder Winter-
könig, sobald man mit solchem Titel Glückseligkeit verbindet; denn an
Munterkeit und Frohsinn, trotz trüber Zeit, kommt unserem Zaunkönig
kaum ein anderer Vogel gleich, und keiner übertrifft ihn. Wer ihn kennt,
rühmt ihm gute Eigeuschafteu nach, außer dem Frohsinn die Lust am
Gesang, außer dem muntern Wesen die Keckheit, außer der Gewandt-
heit die Anmut in seinem ganzen Sein und Treiben. Ununterbrochen
in Bewegung, durchhüpft und durchkriecht er sein niederes Reich, und
bei der strengsten Kälte singt er mit derselben Behaglichkeit, wie im
Frühjahr. Seine Bewegungen sind sonderbar. Er hüpft äußerst schnell
auf dem Boden hin und kriecht mit wunderbarer Gewandtheit durch alle
Löcher, Ritzen, Spalten und Öffnungen im oder über dem Boden, im