1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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Mauerwerk, im Gezweig und Genist, so dag er einer Maus ähnlicher
erscheint, als einem Vogel. Dank dieser Behendigkeit entgeht er den
vielen Feinden, welche auch ihn bedrohen, kriechend und durch das
Dickicht huschend; aber das Fliegen versteht er bloß in geringem Grade.
Gewöhnlich schwirrt er nur über kurze Räume niedrig und in gerader
Linie fort, und bei aller Anstrengung bringt er es höchstens zu flachen,
kurzen Bogen, deren Höhen er mühselig zu erklimmen scheint. Im Freien
ist er verloren, trotz seiner Flügel; ein Mensch kann ihn in kürzester
Zeit so ermüden, daß er sich willig gefangen giebt. Sein Reich ist das
Buschdickicht: je undurchdringlicher, um so besser. Hier bekundet er auch
sein eigentliches Wesen. Stolz und keck zeigt er sich ab und zu auf den
höchsten Spitzen der Gebüsche, den kleinen Stnmpfschwanz kühn in die
Höhe gerichtet, mutvollen Auges um sich blickend und aufmerksam seine
Umgebung betrachtend. Sobald er etwas Merkwürdiges bemerkt, macht
er schnelle Bücklinge und stelzt den Schwanz noch höher als gewöhnlich.
Den Menschen rechnet er nicht zu seinen Feinden; denn er beweist ihm
viel Vertrauen und treibt sich ohne Scheu in seiner Rühe umher; dagegen
stößt ihm der Anblick einer Katze oder eines Raubvogels große Furcht
ein, und er giebt dieser dann sofort durch ein schnell wiederholtes „Zeck-
zeck" Ausdruck. Seinen Gatten lockt er durch ein weitschallendes „Zerrrr",
und diesen Ton wendet er auch zur Begrüßung befreundeter Wesen an.
Der ebenso reichhaltige als angenehme Gesang besteht ans vielen hell-
pfeifenden Tönen, welche ab und zu durch einen kunstvollen Triller
unterbrochen werden. Ein gut schlagender Kanarienvogel kommt dem
Zaunkönig im Gesang noch am nächsten; aber dieser hat weit mehr
Feuer und singt auch viel fleißiger, nicht bloß im Frühling und Sommer
allein, sondern auch im Winter bei strenger Külte. Sofort nach dem
Singen stürzt er sich von dem gewählten höhern Zweige senkrecht in
das Buschdickicht herab, huscht in diesem fort und erscheint dann gelegent-
lich an einer andern Stelle, ungefähr in der gleichen Höhe, zu neuem
Singen.
Schon Ende März beginnt das Paar mit dem Bau seines Nestes,
denn hierzu braucht es Zeit. Das Nest ist nach dem Standorte sehr
verschieden, immer aber prachtvoll und ganz unverhältnismäßig groß.
Seine äußere Lage besteht gewöhnlich ans dürrem Laub, welches mit
größter Sorgfalt ausgewählt wird, damit es der nächsten Umgebung des
Nestes entspricht; darauf folgt eine dicht gefilzte Lage von grünem Moos
und innen zur Ansfütternng ein wirkliches Bett von Federn, welche aber
alle sehr glatt gelegt werden. Immer ist es bedeckt und mit einem seit-
lichen Eingangsloche versehen. Es steht in Reisighanfen und Holzstößen,
in Zäunen, zwischen dein Gewnrzel der Stämme, in Vaumhöhlen, Klüften