1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
74
sie durchaus nackt. Ihre Waffen richteten sich nach der Art des Kampfes,
für den sie bestimmt waren. Die eigentlichen Gladiatoren, die ihren
Namen von ihrer Waffe empfingen, trugen ein Schwert (gladius), am
rechten Arm Schienen von Bronze, am linken einen großen runden
Schild, auf dem Kopf einen geflügelten Helm; und sie kämpften teils
zu Fuß, teils zu Pferde. Andere Kämpfer führten in jeder Hand ein
Schwert und gar keine Schutzwaffe; andere eine Senfe und Schild;
andere Dreizack und Netz; noch andere nur eine Schlinge mit der sie
ihren Gegner erwürgen mußten. Den unglücklichen Andabaten 1 wurden
die Augen verbunden itnb wie Blinde hatten sie aufeinander loszngehen.
Auch diese kämpften nicht alle auf einmal, sondern nach ihren Waffen-
arten abgeteilt; denn genau die Verschiedenheit der Weise zu sehen, in
welcher der Tod empfangen und gegeben werden konnte, schärfte das
Interesse. Den höchsten Reiz für die Schaulust gewährten die Anktoraten,
die als feindliche Armeen, von mehreren hundert Mann jede, mit Schwert,
Schild und Lanze fochten. Dieser Reiz bestand aber nicht sowohl in
der großen Zahl, oder dem ungeheuern Getümmel, oder der Kampfweise,
sondern darin, daß sie alle oder fast alle umkommen mußten. War dies
von den Festgebern mit den Lieferanten der Gladiatoren abgemacht, wurde
auf dem Programm der Feier bemerkt, daß sie fechten sollten „sine mis-
sione“ (ohne Gnade), dann erreichte der blutige Freudenrausch den
höchsten Grad. Ist ein Fechter überwunden, so muß er sich gleich wieder
erheben (das befehlen die Kampsspielgefetze), auf ein Knie vor feinem
Besieger sich niederlassen und um sein Leben bitten. Der Sieger sieht
sich rings um nach dem Richtspruch der Zuschauer. Heben sie den
Daumen in die Höhe, so ist er gerettet; senkt sich der Daumen, so ist
er verurteilt. Ans diese Weise wurden sie zu Hunderten verdammt und
oft nur zwei oder drei begnadigt, denen dann irgend jemand, wie es
üblich war, die Mütze eines Freigelassenen zuwarf, so daß er zugleich
vom Tode und von der Sklaverei gerettet ward. Bei Trajans Spielen,
welche durch die Marter des hl. Ignatius geschlossen wurden, kamen
10 000 Kämpfer um. Bei jeder Todeswnnde, bei jedem geschickt ge-
führten mörderischen Streich ertönte ein Ruf von allen Lippen: „Hoc
habet!“ (Jetzt hat er es), und mit infernalischer Freude funkelten die
200 000 Augen, darunter die Augen von römischen Müttern und
römischen Priesterjnngfranen! Welche Kinder müssen jene erzogen, welchen
Göttern müssen diese gedient haben!
Wieder verschwinden die Leichen und die Blutspuren, und bis die
Vorbereitungen zu einem neuen Akt der Tragödie gemacht sind, wird auch
1 Fechter mit verbundenen Augen.