1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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Doch in dem Werk zeigt sich der Väter Glauben,
Ihr Hoffen, Lieben, Streben, Kämpfen, Ringen;
Ein Gut, das ihnen niemand konnte rauben.
So ruft ihr Geist im Stein den späten Söhnen:
„Nicht zögert, freudig alles darzubringen,
Wenn's gilt dem Ruhm des wahrhaft göttlich Schönen."
Joh. Bapt. Diel.
Die Demut.
Demut, wer kennt, achtet, liebt sie nicht? Wir, die wir vom christ-
lichen Geiste uns genährt haben, finden sie ganz natürlich, groß, edel,
schön; und wenn auch tausendmal der Hochmut an unserer Seele nagt,
so suchen wir ihn doch mit dem Schleier der Demut zu verhüllen. Ist
doch selbst die bescheidene Höflichkeit der modernen gebildeten Welt nur
eine Konvention, welche uns die Tugend ersetzen soll, falsche Demut,
wie La Rochefoucault sagt, ein Tribut, den das Leben dieser Tugend
zollt. So beherrscht sie zur Stunde noch die öffentliche Meinung.
Fragen wir dagegen der besten einen aus der heidnischen Welt:
Was ist Demut? Er hat keine Antwort, keine Vorstellung von einer
Tugend, die dem Christen so geläufig ist, nicht einmal das Wort dafür.
Es ist die Demut die schönste und liebenswürdigste, aber ebenso die
schwerste aller Tugenden. Erst mit ihm ist sie auf Erden in ihrem
ganzen Glanze erschienen, der, aller Größe sich entäußernd, Knecht aller
geworden ist, um allen zu dienen, der allein darum sprechen konnte:
Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. Sie
ist die Frucht der wahren Erkenntnis seiner selbst, die erst das
Christentum dem Menschen gebracht, seiner Niedrigkeit und Ohnmacht
aus sich, seiner Größe und Hoheit durch Gottes freie Gnade. Sie ist
die Wirkung der erhabenen Stellung, zu welcher das Christentum
den Menschen erhoben, des erweiterten Gesichtskreises, in den er durch
die Erkenntnis der ganzen Größe Gottes getreten. Der selbstzufriedene
Stolz verkleinert die Idee von Gott und seiner Schöpfung, in der Demut
dagegen ist Wahrheit. Und in der Demut liegt unsere Kraft. Es ist
ein geheimnisvoller Trieb, ein unwiderstehliches Streben in des Menschen
Brust, was die Phantasie des Jünglings erregt, des Mannes Thatkraft
spornt; aber die Wirklichkeit, das Gefühl der eigenen Ohnmacht schmettert
ihn nieder, und es sinkt bald zurück in starre Apathie das Herz, vordem
so „trotzig" und bald so „verzagt". Nicht so der Demütige. Aus sich
hat er nur Schwachheit, Zwiespalt, Sünde; er weiß sich entbehrlich für
Gott und sein Reich, ein „unnützer Knecht", auch wenn er alles gethan,
mit den reichsten Gaben ausgestattet, nicht auf diese in eitler Selbst-
gefälligkeit den Blick richtend, sondern auf den, der sie ihm zu Lehen