1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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Mitglied des Priesterkollegiums, welches er für seine eigene göttliche Ver-
ehrung einsetzte, und als es einmal den folgenden Tag an einem Wett-
rennen teilnehmen sollte, ließ er die Menschen die Nacht vorher in der
Nähe seines Stalles mit Gewalt und Blutvergießen anseinandertreiben,
damit es nicht in seiner Ruhe gestört werde. Einst ließ er in der Nacht
einige der angesehensten Senatoren zu sich rufen. Als sie sich, in der
Meinung, daß es sich um eine wichtige Staatsangelegenheit handle, ver-
sammelt hatten, öffnete sich plötzlich die Thür des Zimmers: er rauschte
im Schauspielerkostüm herein und tanzte ihnen unter Musikbegleitung
etwas vor. Bei dieser Liebhaberei war es auch natürlich, daß er sich
mehr mit Schauspielern und Wagenlenkern als mit Staatsmännern ab-
gab und einen großen Teil seiner Zeit außer den eigentlichen Spielen
in den Pferdeställen und auf den Übungsplätzen der Nennpferde und
der Gladiatoren zubrachte.
Ein Charakter wie der des Caligula, in dem die Selbstsucht und
die Nichtachtung jeder fremden Persönlichkeit so stark ausgeprägt war,
mußte notwendig, wenn er die Macht besaß, auch grausam sein, und
jenes Treiben, insbesondere die gewohnheitsmäßige Teilnahme an den
Tierhetzen und Gladiatorenspielen, mußte notwendig dazu beitragen, diese
Neigung zu steigern. Es wird erzählt, daß er, als es einst an Ver-
brechern für die Tierhetzen fehlte, aus dem Kreise der Zuschauer die den
Schranken zunächst stehenden aufgreifen und den wilden Tieren vorwerfen
ließ, daß er diese mit dem Fleische der Gefangenen fütterte, daß er bei
Tisch unter seinen Augen die Angeklagten foltern und wohl auch hin-
richten ließ, daß er es den Henkern zur Pflicht machte, ihre Opfer so
hinzurichten, daß sie den Tod fühlen, daß er die Väter zwang, der Hin-
richtung ihrer Söhne beizuwohnen, und sie dann wohl zu einem fröh-
lichen Mahle zu sich einlud, daß er Menschen wie Tiere in eiserne
Käfige sperren oder auch mitten durchsägen ließ, und dergleichen mehr,
was, wenn auch teilweise kaum denkbar, doch beweist, wie er im allge-
meinen war und wie man seinen Charakter auffaßte. Er selbst rühmte
sich der Festigkeit, mit der er das Schrecklichste ansehen könnte.
Es kam nun aber bei ihm noch ein besonderes Motiv zu Grausam-
keiten hinzu. Nicht nur, daß er durch jene Spiele und Wettrennen un-
geheure Summen verschleuderte, sondern er war auch im übrigen ein
ganz sinnloser Verschwender. Es gehörte z. B. zu seinen Vergnügungen,
Geld oder Geldanweisungen unter das Volk auszuwerfen oder auch bei
den öffentlichen Spielen die versammelte Menge zu bewirten; er warf
seinen Günstlingen, besonders Schauspielern und Wagenlenkern, bei jeder
Gelegenheit große Geschenke zu: so erhielt ein Wagenlenker von seiner
Partei, Eutychus, einst beim Nachttisch, wo es üblich war, kleine Geschenke