1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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andern bewegte — war das Erstaunen seiner Zeitgenossen und nicht die
letzte Ursache seiner Erfolge. Wie der Körper war der Geist. Sein
bewunderungswürdiges Anschauungsvermögen offenbarte sich in der Sicher-
heit und Ausführbarkeit all seiner Anordnungen, selbst wo er befahl,
ohne mit eigenen Augen zu sehen. Sein Gedächtnis war unvergleichlich,
und es war ihm geläufig, mehrere Geschäfte mit gleicher Sicherheit neben-
einander zu betreiben. Obgleich Gentleman, Genie und Monarch, hatte
er dennoch ein Herz. Solange er lebte, bewahrte er für seine würdige
Mutter Aurelia — der Vater starb ihm früh — die reinste Verehrung;
seinen Frauen und vor allem seiner Tochter Julia widmete er eine ehr-
liche Zuneigung, die selbst auf die politischen Verhältnisse nicht ohne
Rückwirkung blieb. Mit den tüchtigsten und kernigsten Männern seiner
Zeit, hohen und niedern Ranges, stand er in einem schönen Verhältnis
gegenseitiger Treue, mit jebejn nach seiner Art. Wie er selbst niemals
einen der Seinen in Pompejns' kleinmütiger und gefühlloser Art fallen
ließ und, nicht bloß aus Berechnung, in guter und böser Zeit ungeirrt
an den Freunden festhielt, so haben auch von diesen manche, wie Aulus
Hirtius und Gajus Matius, noch nach seinem Tode ihm in schönen Zeug-
nissen ihre Anhänglichkeit bewährt. Es versteht sich von selbst, daß Cäsar
ein leidenschaftlicher Mann war, denn ohne Leidenschaft giebt es keine
Genialität; aber seine Leidenschaft war niemals mächtiger als er. Die
Litteratur beschäftigte ihn lange und ernstlich; aber wenn Alexandern
der homerische Achilles nicht schlafen ließ, so stellte Cäsar in seinen
schlaflosen Stunden Betrachtungen über die Beugungen der lateinischen
Haupt- und Zeitwörter an. Er machte Verse, wie damals jeder, aber
sie waren schwach; dagegen interessierten ihn astronomische und natur-
wissenschaftliche Gegenstände. Wenn der Wein für Alexander der Sorgen-
brecher war und blieb, so mied nach durchschwärmter Jugendzeit der
nüchterne Römer denselben durchaus. Noch in späteren Jahren blieb
ihm eine gewisse Stutzerhaftigkeit im äußern Auftreten oder richtiger das
erfreuliche Bewußtsein der eigenen schönen Erscheinung. Sorgfältig deckte
er mit dem Lorbeerkranz, mit dem er in späteren Jahren öffentlich er-
schien, die schmerzlich empfundene Glatze und hätte ohne Zweifel manchen
seiner Siege darum gegeben, wenn er damit die jugendlichen Locken hätte
zurückkaufen können. Wie gern er auch noch als Monarch mit den Frauen
verkehrte, so hat er ihnen doch keinerlei Einfluß über sich eingeräumt.
Cäsar war durchaus Realist und Verstandesmensch; und was er angriff
und that, war von der genialen Nüchternheit durchdrungen und getragen,
die seine innerste Eigentümlichkeit bezeichnet. Ihr verdankte er das Ver-
mögen, unbeirrt durch Erinnern oder Erwarten energisch^ im Augenblick
zu leben; ihr die Fähigkeit, in jedem Augenblick mit gesammelter Kraft