1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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auch ungeschickter und mit mehr Zeitaufwand; denn auch sie stimmen
mit ihren Ansichten nicht immer überein. Musterhaft zeigt sich oft die
Unermüdlichkeit ihrer Ausdauer, welche die Orientalen durch eine fchöne
Legende verherrlicht haben. Irgend ein Prinz, fo erzählen sie, im Kriege
mehrmals zurückgeschlagen, lag, beinahe verzweifelnd, in seinem Zelte.
Eine Ameise lief an der Seitenwand in die Höhe. Er warf sie wieder-
holt herab, aber immer kletterte sie wieder hinauf. Neugierig, zu sehen,
wie weit sie ihre Hartnäckigkeit treiben werde, warf er sie achtzig Mal
herunter, ohne sie dadurch zu entmutigen. Er selbst war ermüdet, aber
zugleich auch von Bewunderung erfüllt. Die Ameise hatte ihn überwunden.
Da sagte er zu sich: „Ahmen wir ihr nach und auch wir werden siegen."
Was der Prinz sah, können wir täglich erfahren, wenn wir uns nur die
Zeit dazu nehmen wollen. Bei ihren Zufuhren kommen den Ameisen die
breiten Straßen zu statten, welche sie anlegen und mit der Zeit ganz
glatt treten; sie marschieren auch in ziemlich geordneten Reihen die Baum-
stämme empor, um Harz zu holen oder die Blattläuse zu melken. Auf
den Zweigen beunruhigt, lassen sie sich fallen.
So roh auch das Äußere ihrer Hütten aussieht, im Einklänge mit
dem Materiale, aus welchem sie bestehen, so bewundernswürdig ist doch
die Zweckmäßigkeit, die berechnete Anordnung im Innern derselben.
Dieses besteht aus einer Unzahl von Gemächern verschiedener Größe, alle
durch Gänge miteinander verbunden und in verschiedene Stockwerke ver-
teilt, einige tief unten in der Erde, andere in der Kuppel des Gebäudes.
Jene sind bestimmt zur Aufnahme der Jugend bei kaltem Wetter oder
über Nacht, diese werden bei Tage gebraucht. Die aus dem Fundament
entnommene Erde wird mit den schon genannten oder ungenannten
Materialien gemischt und giebt dem luftigen Schlosse seinen Halt. Strahlen-
artig führen Gänge von dem Innern nach außen, die Thore der volk-
reichen Stadt sind durch aus und ein passierende Bewohner fortwährend
belebt, für Fremde aber verschlossen durch die wachehaltenden „Stadt-
soldaten". Bei Regenwetter oder für die Nachtzeit pflegen sie ihre Thore
ebenfalls zu verschließen.
Die Arbeiter, verschieden an Größe, teilen sich in zwei Rotten: die
Lieferantinnen, welche das Nötige herbeischaffen, und die häuslichen
Wärterinnen, welche die innern Familienangelegenheiten, besonders die Er-
ziehung der Jugend und die Ernährung der stets drinnen verborgenen
Männchen und Weibchen besorgen. Ihnen fällt eine ungeheure, unab-
lässige Beschäftigung zu, wenn man nach den fortwährenden Bewe-
gungen um die Wiege urteilt. Fällt ein Regentropfen, scheint ein
Sonnenstrahl, so giebt es einen allgemeinen Aufstand, eine Umbettung
aller Kinder, und das mit unermüdlichem Eifer. Man sieht, wie