1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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Bedeutender war der Einfluß der deutschen Romantiker und unter den
englischen Dichtern namentlich Walter Scott, Washington Irving und
Lord Byron. Davon zeugten die zwei folgenden epischen Dichtungen:
„Das Hospiz auf dem St. Bernhard", großartig in den Naturschilderungen,
und „Des Arztes Vermächtnis", ein virtuos ausgeführtes psychologisches
Nachtbild. Hier zeigt sich bereits eine Seite ihres Talents in hohem
Grade wirksam: die außerordentliche Kraft lebendiger Darstellung, jene
feine genaue Malerei im Detail mit der ergreifenden Naturwahrheit im
ganzen und großen. Am sinnfälligsten traten diese Eigenschaften an
einem dritten größern Gedichte hervor: „Die Schlacht am Loener Bruch".
Es ist darin jene meisterliche Waffenthat geschildert, wodurch Tilly den
wüsten und räuberischen Parteigänger Herzog Christian von Braunschweig
und Administrator von Halberstadt, nachdem er den ausweichenden Gegner
mit tagelangem Nachsetzen endlich zum Stehen gezwungen, in einer zwei-
stündigen Schlacht am 6. August 1623 entscheidend aufs Haupt schlug
und seine barbarischen Scharen vernichtete. Dieser Schlag geschah be-
kanntlich bei Stadtloen auf der großen Heide, dem „Bruch", also auf
dem heimischen Boden der Dichterin, und sie hat ein Gemälde daraus
geschaffen, so kühn, so flammig und so scharf umrissen, daß es sich unzer-
störlich mit leibhaftigen Gestalten der Einbildungskraft des Lesers ein-
prägt. Damit war die westfälische Dichterin zur vollen Selbständigkeit
erwachsen.
Die drei erzählenden Gedichte, verbunden mit einigen lyrischen Erst-
lingen, kamen im Jahre 1837, jedoch ohne den Namen der Dichterin, zu
Münster in Druck. Sie hatte nie an die Öffentlichkeit gedacht; bei ihrem
poetischen Schaffen war sie einem unmittelbaren innern Drange gefolgt,
und der Schriftstellerruhm war nicht ihr Ehrgeiz. Aber die Aufforde-
rungen ihrer Freunde lauteten so dringend, daß sie sich endlich bestimmen
ließ, die Dichtungen in die Welt hinauszugeben. Sie fanden jedoch da-
mals nicht die gebührende Beachtung, und es dauerte noch eine geraume
Zeit, bis die dichterischen Schöpfungen Annettens von Droste in einer
größern Sammlung, die bei Cotta herauskam, die Aufmerksamkeit und
die Bewunderung der deutschen Welt auf sich zogen.
Der Aufenthalt der dichterischen Einsiedlerin auf Rüschhaus wurde
noch stiller und einsamer, als im Jahre 1834 ihre ältere Schwester sich
mit dem Reichsfreiherrn von Laßberg zu Eppishausen vermählt hatte und
auch die Mutter dadurch zu häufigern und längern Reisen nach dem
Kanton Thurgau veranlaßt wurde. So kam es, daß Annette oft ganz
allein in ihrem „Schneckenhäuschen" blieb. Die Einsamkeit war ihr lieb
geworden und die heimische Oase der fruchtbare Boden, auf dem die Er-
zeugnisse ihrer Muße am glücklichsten gediehen.