1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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Zauberbecher des ersten Tages bis auf die Neige geleert. — Im Kinder-
herzen liegt eine tiefe Wehmut über dahingeschwundene Freuden, wie ein
Todesengel nistet sich die Nacht mit ihren schwarzen Flügeln ins Gemüt
ein, und was ist es anders, als der halbbewnßte Schmerz über irdische
Vergänglichkeit und die halbbewußte Sehnsucht nach einem dauernden
Zustande von Glück und Seligkeit, wenn selbst schon die Angen des
Kindes beim Hereinbrechen der Dämmerung nach einem fröhlich und in
freudiger Aufregung verlebten Tage sich mit Thränen füllen, die dem
dahingeschwundenen Tage ein Lebewohl für die Ewigkeit nachzurufen
scheinen, denn er kehrt nimmer, nimmer wieder.
Beim Abendessen kamen Qualen zum Tagesschluß. Die Großmutter
rannte Sturm mit Suppe, — zurückgeschlagen; mit Gesottenem und Ge-
bratenem — es half alles nichts, nur schwarzes Landbrot mit Butter und
Honig wollte ich haben, ich mußte meinem Vorhaben getreu bleiben, auf
das hatte ich mich ja auch schon so oft gefreut in den öden Schulstunden
zu Wien. Dann ging's zum Himmelbette. Was war das für ein
Kolosseum von einem Bett! Es hätte können als ein Modell der
Festung Belgrad hergezeigt werden. Die Müdigkeit arbeitete an den
Augendeckeln, und hätte die Mutter mich nicht das Abendgebet laut her-
sagen lassen, das Söhnlein würde sich für diesmal sicher Dispens dafür
erteilt haben. Die Kindheit ist eine Alchimistin der Poesie, ihr wird
alles unter der Hand zu Gold — sie weiß überall einen dichterischen
Zauber zu finden oder hineinzulegen.
Wenn am Morgen die Menge ungeduldiger Bewohner verschiedener
Schweinkoben an die Magd, welcher die Fütterung oblag, ihre Kollektiv-
bittschrift einreichten, wenn sie bald Solo, bald Duett, bald alle mit-
einander und durcheinander vom Diskant des Spanferkels bis zum durch-
gebildeten Baß des alten „Saubären" (mit welchem gewaltigen Wort
in jener Gegend das Tierindioidnum bezeichnet wird, was feiner gebildete
Deutsche das Schweinemännchen heißen) ihren Gefühlen musikalischen
Ausdruck zu verleihen suchten, so ergötzte mich dieser Lärm derartig, daß
ich mich geradeswegs zu den Konzertsälen hinbegab, ans denen es heraus-
tönte: und wenn die Sänger beim Herannahen der Magd mit dem
sogenannten „Schweintrank" ihre verschiedenen Rüssel über die Holz-
planken ihrer kleinen Höfe legten und aus allen Fugen ihrer Ställe
herausbohrten, und in schnellerem Tempo und mit gehobenerem Geschrei
von ihrem aufrichtigen Verlangen und ihrer seelenvollen Stimmung Kunde
gaben, so war damals mein Vergnügen an Gesang und Mimik gewiß
nicht geringer, als das eines Musikfreundes an einer Produktion in der
komischen Oper zu Paris.
Wie anregend wirkte auf mich der Wald mit seinen Fichten und