1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
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so beträchtlichen Teil seines Gewichtes erleichtert, steigt von neuem in die
Höhe. Mit schneller Geistesgegenwart packt Nolier das Fangseil, und
sich mit seiner ganzen Last anhängend, vermag er den Lauf des Ballons
für Sekunden zu verzögern. Deschamps benutzt diese kostbaren Augen-
blicke. Auch er schwingt sich aus dem Nachen und stürzt von 20 bis
25 Meter Höhe hinunter in den Schnee, — sie sind gerettet! gerettet!
Wer wollte beschreiben, was sich nicht beschreiben läßt: nach der
unendlichen Not das unendliche Glück der Gefährten! Sich stumm die
Hände drückend, standen sie da, standen wieder auf dem Boden der
mütterlichen Erde. Der Ballon freilich und die Tauben schienen verloren
zu sein.
Es war am Freitag den 25. November, halb 3 Uhr Nachmittags.
15 Stunden hatten die beiden Männer in einem elenden Weidenkorbe
zwischen Leben und Tod geschwebt, und nur ein Wunder hatte das Unab-
wendbare von ihnen abgewendet. Aber wo befanden sie sich? Wohin
sollten sie ihre irren Schritte richten? Welcher Empfang wartete ihrer?
Das waren die nächsten Fragen, und freilich waren dieselben nur zu
geeignet, ihre dankbare Freude wiederum in die düsterste Sorge zu ver-
kehren. Ohne Lebensmittel, ohne wärmere Kleider — denn selbst ihre
Decken hatte der Ballon mit fortgeführt — in einem eisigen Klima, aus
unwirtschaftlichen schneebedeckten Bergen, wo jede Spur des Lebens er-
loschen zu sein schien, sahen sie sich in der That nur anderen und kaum
geringeren Schrecken preisgegeben. Sie versuchen von den steilen Höhen
herunterzusteigen; hier über Gletscherfelder, dort an Abgründen hinunter-
gleitend, stürzen sie bald in tiefe Eisspalten, bald sinken sie bis an die
Brust in Schneelöcher hinein. Sie forschen nach allen Seiten, sie rufen,
sie horchen. Aber nirgends eine Antwort oder ein lebendes Wesen. Nur
ein einziges Mal glauben sie in der Ferne eines Wolfes ansichtig geworden
zu sein. Endlich, nach langen Täuschungen und Mühen, entdeckt Rolier
die Spuren von Schlitten, welche sich nach Süden hinziehen; sie folgen
dem glückverheißenden Zeichen und erreichen nach mehrstündiger Wanderung,
während ihr Schuhwerk in Fetzen um die erstarrten und blutenden Füße
hängt, eine halbverfallene Hütte, deren Eingang von Schneewänden fast
völlig versperrt ist. Gerettet zum zweitenmale!
Sie werfen sich auf den Boden der Hütte nieder, sie graben sich in
die schützende Schneedecke ein und versuchen zu ruhen. Aber die unge-
heure Aufregung läßt sie die Wohlthat des Schlafes nur kümmerlich
schmecken; auf Stunden trauriger Lethargie folgen andere eines von
Fieberschauern und wilden Träumen unterbrochenen Schlummers, bis
endlich der Morgen des neuen Tages die Schiffbrüchigen von ihrem Lager
emportreibt.