1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Führer, Anton, Hense, Joseph
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Mittelalter
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Dritte Periode, von 1150—1300.
er mit wahrem Mannesmut eintritt. Mit ihm kämpft tapfer um die
geraubte Braut Herwig, eine ritterliche Erscheinung voll Mut und be-
harrlicher Thatkraft, aber auch voll Milde und zarter Rücksicht. In
weniger vorteilhaftem Lichte ist Hartmut gezeichnet. Weicheren Sinnes
läßt er sich ganz von feiner Mutter leiten, welcher er nicht einmal ent-
gegenzutreten wagt, wenn er auch sieht, wie grausam dieselbe gegen die
von ihm geliebte Gudrun verfährt. In der Schlacht ist er jedoch ein
tapferer Krieger, der die tüchtigsten Helden überwindet. Gegen Gudrun
bleibt er, so oft er auch von ihr zurückgewiesen wird, stets gleich zart
und rücksichtsvoll. Kräftigeren Charakter zeigt sein Vater Ludwig, der
nicht bloß Tapferkeit, sondern auch Klugheit und List kennt, aber dennoch
nicht Kraft genug besitzt, um seiner ehrsüchtigen und alles beherrschenden
Gattin Gerlind entgegenzutreten. Die Vasallen Heitels: Wate, Frute
und Horand sind jeder für sich mit besonderen Zügen ausgestattet. Wate
ist der gewaltigste und tapferste Degen, dessen Furchtbarkeit gleich dem
Hagen des Nibelungenliedes schon äußerlich sich zeigt; er kennt nicht
ängstliche Furcht noch schonende Milde. Frute wirkt als Kaufmann
.verkleidet durch seine List, während Horand durch seinen lieblichen
Gesang einem Orpheus gleich herrliche Wunderthaten vollführt.
So erscheint uns das Gudrunlied bei knapper Kürze, die den Leser-
ost manches erraten läßt, als ein von schöner Idee getragenes, farbenreich
durch treffliche Charaktere ausgestattetes, den Stoff völlig erschöpfendes
Werk. Mögen auch einzelne diese „wunderbare Nebensonne der Nibelungen"
minder hochschätzen, wir stimmen den Worten von Jakob Grimm bei, daß die
Gudrun dem Nibelungenliede „an innerem Gehalte nahe stehe und es in der
Anlage des Ganzen und regelmäßig fortschreitender Entwickelung übertreffe".
Ii. Das kunltcpos.
§ 11.
Stoff des Kunstepos, Darstellung und Form.
Das Knnstepos, wie die ganze höfische (ritterliche) Dichtung, ist
„die Arbeit" ritterlicher Sänger, welche namentlich an den gastlichen
Höfen der Welfen, so des Herzogs Heinrich des Löwen, der Landgrafen
von Thüringen und der babenbergischen Fürsten Österreichs ihre heimische
Stätte fanden. Dieselben nahmen ihre Stoffe, entsprechend ihrer Bildung,
die ganz von fremden, besonders französischen Einflüssen beherrscht war,
aus der Fremde und zwar meist nach französischen Vorbildern: „fremdiu
maere und fremde namen hat diu aventiure“, wie einer jener Dichter
selbst sagt. So sind die Stoffe gewählt aus den antiken Sagen vom
trojanischen Krieg und von Äneas, 'aus der Sage von Alexander