1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Führer, Anton, Hense, Joseph
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Mittelalter
- Geschlecht (WdK): Jungen
§ 11. Stoff des Kunstepos, Darstellung und Form.
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dem Großen, ferner aus der französischen Sage von Karl dem
Großen, aus der brittischen Sage von König Artus und der
Tafelrunde^ und aus der spanischen Sage vom heiligen Gral?.
1 Um den Namen des Königs Artus (getötet 542), der als Vertreter der brittischen
(keltischen) Nationalität in siegreichem Kampfe gegen die Angelsachsen, gegen Schott-
land, Irland, Norwegen und Dänemark gedacht wird, bildete sich mit der Zeit, indem
„das erlöschende Nationalbewußtsein des von Römern ltnb Germanen aus der Reihe
der herrschenden Völker Europas verdrängten Keltcnvolkes sich um ihn sammelte",
ein Sagenkreis, welcher sich von Wales über Britannien und von dort über
Frankreich ausbreitete und „nahe an ein Jahrtausend die ganze romanische und
germanische Welt erfüllte und poetisch beherrschte". Als Muster und Vorbild aller
ritterlichen Tugenden und der feinen Sitte hält Artus mit seiner schönen und
tugendhaften Gattin Ginevra glänzenden Hof in Wales. Auf den Rat des ihm
befreundeten Zauberers Merlin gründet er den Orden der Ritter der Tafelrunde.
Nur zwölf Helden, die durch ritterliche Tüchtigkeit jeglicher Art hervorragen, können
in diesen Orden aufgenommen werden und sitzen zum Zeichen ihrer gleichen Würdig-
keit vereint mit dem König und der Königin um eine runde Tafel. Ihr Streben
geht dahin, alle Ausgaben des weltlichen Rittertums zu lösen: die Frauen zu
schützen, die Übermütigen zu demütigen, Riesen zu bändigen, Ungeheuer zu erlegen,
Bezauberte zu befreien. Zu diesem Zwecke ziehen sie vom Hofe des Königs ans
Abenteuer (entlehnt aus dem franz. aventure, mittellat. die aventura (ursprünglich
ackventurasj) aus, welche eine regellose, stets Neues erfindende Phantasie auf das
phantastischeste, wunderbarste und bunteste gestaltet und endlos aneinander reiht.
Nach Vollendung großer Thaten kehren die Ritter zu neuer Freude zur Tafelrunde
zurück. Die vorzüglichsten derselben sind Jwein, Tristan, Erek, Parzival.
2 Die Sage vom heiligen Gral, ursprünglich aus dem Orient stammend, findet
ihre Ausbildung zunächst in Spanien und Südsrankreich, dann in Deutschland.
Dieselbe enthüll ein doppeltes Moment: das allgemein menschliche von der Annahme
eines paradiesischen Zustandes auf Erden und das christliche von dem Glauben an
die beseligende Kraft, die ausgeht vom Abendmahle Christi. Der Gral (altfranz.
graal oder gréai — Schüssel) ist eine aus einem kostbaren Edelstein gearbeitete
Schüssel, aus welcher Christus mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl genoß, und
in welche Joseph von Arimathäa das aus der Seitenwunde Christi rinnende Blnt
aufsing. Daher knüpft sich au den Gral äußerlich die Darbringung des christlichen
Opfers und die Welterlösung; er ist deshalb auch mit Kräften ewigen Lebens
ausgestattet. Eine weiße Taube stiegt alljährlich am Karfreitage vom Himmel
hernieder, legt in die Schüssel eine Oblate (Hostie) und erneuert durch dieselbe die
überirdische Kraft, denn der Anblick des Grals rettet vom Tode und befriedigt alle
Wünsche. Niemand aber kann ohne den Ruf des Herrn zum Gral gelangen, niemand
der Wunder desselben teilhaftig werden, der stumpfsinnig und gleichgültig nicht nach
demselben fragt. So ist der Gral gleichsam die Geschichte der Erlösung durch den
Mensch gewordeneir Gottessohn, das Symbol der christlichen Religion, die mehr als
alle Herrlichkeit der Welt beseligt, die dem Menschen aber nur durch die Gnade Gottes
zu teil wird. — Von Titurel, einem sagenhaften Köuigssohn von Anjou, dem ersten
Gralkönige, wird dem Gral, der nach dem Tode Josephs von Arimathäa von
Engeln schwebend in der Luft gehalten war,.eine herrliche Burg erbaut auf dem
Berge Monsalväsch (irions salvailonis — Berg der Erlösung) oder ivlunsalvaesollo
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