1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Führer, Anton, Hense, Joseph
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Mittelalter
- Geschlecht (WdK): Jungen
§ 12. Dichtungen der vorbereitenden Zeit des Kunstepos, von 1150—1180. 117
sorgsame und richtige Behandlung des Reimes und namentlich die Rein-
heit der Sprache1 fehlten. Als bedeutendste Dichtungen gehören dieser
Borbereitungszeit au:
1. Das Annolied, ein Lobgesang in hohem Schwünge auf den
hl. Anno, Erzbischof von Köln (ch 1075), welches biblische Geschichte,
Sage und Profangeschichte zwar bunt durcheinander mengt, aber dennoch
gute Anordnung bei lebhafter Schilderung und inniger Gefühlstiefe fast
nirgends vermissen läßt.
2. Das Alexanderlied vom Pfaffen Lamprecht, eine der schönsten
Dichtungen des Mittelalters, in kräftiger und oft volkstümlich lebendiger
Darstellung, welche neben manchen lieblichen Schilderungen von poetischer
Kraft auch ernste und große Gedanken in sich birgt. In dem ersten, mehr
historischen Teile werden in mittelalterlicher, durch die Kreuzzüge beein-
flußter Anschauung die Jugendjahre und die Eroberungszüge des großen
Weltbeherrschers dargestellt; in dem zweiten, mehr romantischen Teile, in
welchem Alexander bis an das Ende der Welt vordringt, beschreibt er in
einem Briefe an seine Mutter und seinen Lehrer Aristoteles die Abenteuer
und Wunder seiner Fahrt (vgl. folgende Probe). Im Übermut dringt er
vor bis zu des Paradieses Pforten, um auch dieses zu erobern, aber hier
muß er umkehren; die Nichtigkeit alles Irdischen erkennend, befleißigt er
sich nun der Mäßigung und Milde bis zu seinem Tode „und behielt
nichts mehr für sich — von alledem, was er errang — als Erde,
sieben Fuß lang, — wie's der ärmste Mann erhält, ■— der je kam in
diese Welt".
Ocr Iaubcrwatd.
Als wir hinzogen an dem Meere,
Da ritt ich außer meinem Heere
Mit dreientausend Mannen.
Darauf huben wir uns von bannen
Und gedachten Wunder zu sehen;
Da sahen wir fern von bannen stehen
Einen großen, prächtigen Wald.
Das Wunder, das war mannigfalt,
Das wir da vernahmen.
Als hinzu wir kamen,
Da hörten wir wohl in ihm
Manche wunderschöne Stimm',
Lyren- und Harfenklang
Und den süßesten Gesang. —
Der herrliche, der alte Wald
War wunderbarlich schön gestalt',
Wir konnten's all genau gewahren.
Stattlich hoch die Bäume waren,
Die Zweige waren breit und dicht,
Nur Wahrheit gibt euch mein Bericht.
Das war eine große Wonne.
Da konnte nicht die Sonne
Hindurch bis zrir Erde scheinen.
Ich und die Meinen,
1 Man nennt die Sprache, in welcher diese Dichtungen geschrieben sind, als
Zwischenstufe zwischen dem Althochdeutschen der Vorzeit und dem Mittelhochdeutschen
der Blütezeit, die mitteldeutsche, in welcher die thüringisch-hessische Mundart
vorwiegende Geltung hat.