1884 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Führer, Anton, Hense, Joseph
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Inhalt: Zeit: Mittelalter
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Vierte Periode, von 1300—1500.
Vierte Periode, von 1300—1500.
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Die Zeit des Verfalles der Poesie.
Der Verfall der Poesie, der schon vor dem Beginne dieser Periode
anhob (vgl. § 22), beruhte ans mehreren Gründen:
1. Der Wechsel der Kaiser, die ans verschiedenen Häusern gewählt
wurden, die Rivalität der Fürsten, das Streben der Kaiser und der
Fürsten, nicht das Wohl des ganzen Reiches, sondern nur die persönliche
Hausmacht zu mehren, ertöteten den nationalen Sinn, den Gedanken der
Einheit und Zusammengehörigkeit und vernichteten das Interesse für die
höheren idealen Zwecke der Dichtkunst.
2. Das Rittertum, welches nach der Einführung des Schießpulvers
(um 1350) auch seine kriegerische Bedeutung einbüßte, verlor die frühere
ideale Richtung vollständig und versank in Verwilderung und Roheit, so
daß bei der Machtlosigkeit der Kaiser sich ein Raubrittertum herausbildete,
welches die schrecklichsten Zeiten des Faustrechtes hervorrief.
3. Die Geistlichkeit verfiel mehrfach in Unwissenheit, so daß in
einigen Klöstern, früheren Heimstätten der Bildung und Wissenschaft, die
Mönche nicht mehr zu schreiben verstanden. Mit solcher Unwissenheit
ging nicht selten Hand in Hand eine bedauerliche Zuchtlosigkeit, welche
den Sinn für Hohes und Edles immer mehr schwinden ließ.
4. Vielfache Unglücksfälle, Hungersnot, Erdbeben, Pest (der
sogenannte schwarze Tod) und der verheerende Hussitenkrieg (1419—1436)
drückten und verdüsterten die Gemüter, die einer trüben Lebensanschauung
sich hingaben.
So erstarb die Begeisterung für die alten sagengeschmückten Volks-
helden, so war dahin der Sinn für das Minnelied, dahin die Freude an
einer sinnreichen Didaktik; so fehlten die fürstlichen Hüter und Schirmer
der Dichtkunst, fehlten die Ritter, die in ihrem idealen Streben höfische
Dichtung geübt und auf das höchste geschätzt hatten. Die auf den neu-
gegründeten Universitäten (Prag 1348, Wien 1365, Heidelberg 1387,
Köln 1388 u. s. w.) behandelte Wissenschaft blieb als Wissenschaft der
Gelehrten, zumal sie in lateinischer Sprache behandelt wurde, ohne Ein-
fluß auf das Volk und konnte nach ihrer ganzen Richtung eher die
Prosa als die Poesie fördern.
Freilich hört die Dichtkunst nicht völlig auf, aber Dichter, Stoffe
und Behandlung werden andere. Statt der „Herren" treten ein die
„Meister", statt der poetischen Stosse der Vorperiode unpoetische Gegen-
stände des Alltagslebens oder Abschnitte aus der Bibel, statt der früheren