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1. Dichtung des Mittelalters - S. 205

1884 - Freiburg im Breisgau : Herder
§ 25. Die Zeit des Verfalles der Poesie. 205 Die Meistersängerschulen, innungsmäßig gleich den bürgerlichen Zünften abgeschlossen, blühten namentlich in Mittel- und Süddeutschland, die Erzählung der Bibel und der Heiligengeschichten begingen. Diese Leute hießen Merker, und ihrer gab es drei. — Als der Kaiser erschien, geriet alles in lebhafte Bewegung. Ein greiser Meister betrat den Singstnhl. und von dem Gemerke erscholl das Wort: ,Fanget anst Es war Konrad Nachtigall, ein Schlosser, der so sehnsüchtig und klagend sang, daß er seinen Namen wohl mit Recht führte. Vom himmlischen Jerusalem sagte er viel Schönes in gar künstlichen Reimen und Rede- wendungen. Auf dem Gemerke las einer der Meister in der Bibel nach, der andere zählte an den Fingern die Silben ab, und der dritte schrieb auf, was diese beiden ihm von Zeit zu Zeit znfllisterten. Aber auch die Meister unten waren aufmerksam und in stiller Thätigkeit. Alle trieben mit den Fingern ein närrisches Spiel, um genau die Versmaße wahrzunehmen. An ihrem Kopfschütteln erkannte man, daß der Sprecher hie und da ein Versehen begangen. Nach dem Meister Nachtigall kam die Reihe an einen Jüngling, Fritz Kothner, einen Glockengießer, der die Schöpfungs- geschichte zum Gegenstand seines Gedichtes gewählt hatte. Aber der Arme war verlegen, es wollte nicht gehen, und ein Merker hieß ihn, den Singstnhl zu ver- lassen. ,Der Meister hat versungenst rannte mir mein Nachbar zu, und da ich ihn fragte, warum man ihn nicht hätte sein Stück ¿it Ende bringen lassen, so erklärte er mir, daß derselbe ein ,Laster^ begangen. Mit diesem Namen belegten nämlich die Kenner der Tabulatur einen Verstoß gegen die Reime. Dergleichen wunderliche Benennungen für Fehler gab es viele, als: blinde Meinung (Undeutlichkeit), Klebsilbe (willkürliche Zusammenziehuugs, Milben (des Reimes wegen abgebrochene Wörter) rc. Die Bezeichnungen der verschiedenen Tonweisen waren gar absonderlich, als die Schwarz-Tintenweise, die abgeschiedene Vielfraßweise, die Cnpidinis- Haudbogenweise. In der Hagebütweise ließ sich jetzt vom Singstnhl herab Leonhard Nunnenbeck vernehmen, ein ehrwürdiger Greis im schwarzen Ge- wände. Alles bewunderte ihn, wie er, gemäß der Apokalypse, den Herrn beschrieb, an dessen Stuhl der Löwe, der Stier, der Adler und der Engel ihm Preis und Ehre und Dank gaben, der da thronet und lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit, wie die 24 Ältesten ihre Krone vor den Stuhl niederlegten und Preis und Ehre und Dank ihm gaben, durch dessen Willen alle Dinge ihr Wesen haben und geschaffen sind, und wie sie ihre Kleider hell gemacht haben im Blute des Lammes, wie die Engel, die um den Stuhl, um die Ältesten und um die vier Tiere standen, ans ihr Angesicht niederfielen und Gott anbeteten. Als Nunnenbeck endigte, da waren alle voller Entzücken, und namentlich leuchtete aus Hans Sachsens Gesicht hell die Freude hervor, der sein dankbarer Schüler war. — Da trat als der vierte und letzte Sänger wieder ein Jüngling ans. Er gehörte auch zur Weberzunft und hieß Nt i ch e l Beham und hatte mancherlei Länder gesehen. Mit rastloser Anstrengung hatte er sich in der Singkunst geübt und verglich sich mit Recht mit einem Bergmann, der mühsam gräbt und sucht, um edles Gold zu fördern. Nie war er früher in einer Fachschule aufgetreten, da er nicht anders als mit Ruhm den Singstnhl besteigen wollle. — Als Michel Beham sein Gedicht: ,Von zwo Jungfrauen^ vorgetragen hatte, da verließen die Merker ihren Sitz. Der erste trat zu Nunnenbeck und hängte mit einem laugen Glückwunsch ihm den Davidsgewinner (eine silberne Kette mit dem Bilde des Königs David) um, und der zweite Merker zierte Behams Haupt mit einem schönen Kranze aus seidenen Blumen, der ihm gar wohl stand. Diese
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