1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
3. Gedächtnisrede auf weiland L-c. Majestät Kaiser Wilhelm I. 9
vierzig Jahren, vergessen, den der Prinz von Preußen noch in Verborgen-
heit auf der Pfaueninsel zubrachte. Hier fühlte er sich gedruugeu, im
engsten Kreise der Familienglieder und Hausgenossen offen auszusprechen,
daß er einer umfassenderen Beteiligung der Volksvertretung niemals ent-
gegen getreten wäre; am Abend seines Geburtstages nahm er tieferschüttert
von den Seinigen und der Heimat Abschied, um, von einem Adjutanten
begleitet, unerkannt nach Hamburg zu fahren. In England begann ein
neues Leben für ihn. Niemals hat er der hochherzigen Königin die ihm
bereitete Ausnahme vergessen, und lebenslang ist er dem damaligen Ge-
sandten, Herrn von Bunsen, dankbar geblieben, weil er durch ihn mit
den englischen Staatseinrichtungen bekannt wurde. Als die Königin von
England damals von Frevlerhand eine Verletzung erhielt, war er Zeuge,
wie tief gewurzelt im Laude der Parlamente das Königtum sei. Ganz
London scharte sich um den Palast, um der Fürstin seine Teilnahme zu
zeigen, und als abends im Theater von neuem eine begeisterte Sympathie
zum Ausbruche kam, flössen Thränen über seine Wangen, indem er seiner
Lage und der Heimat gedachte. Die Königin bemerkte es und sagte, seine
Hand leise fassend: „Sie werden das auch noch erleben!" „Ja, ja," sagte
der Kaiser, als er dies erzählte und setzte, da die Anwesenden ihn freudig
anblickten, mit mildem Lächeln hinzu: „Es hat nur etwas lauge gedauert!"
Zürnen Sie mir nicht, verehrte Zuhörer, wenn ich dieser dunkeln
Tage gedenke. Denn das Bild unseres Kaisers Wilhelm, das wir unseren
Kindern und Kindeskindern einprägen wollen, strahlt auf diesem Hinter-
gründe um so leuchtender hervor.
Ja, lange dauerte es, bis das irregeleitete Volk sich von der Lüge
frei machte und sich seinem Königssohne wieder zuwandte. Als die pom-
mersche Ritterschaft ihren heimgekehrten Statthalter feierte, tobte draußen
um das Stettiner Schloß noch gellender Widerspruch. Aber ohne Ver-
bitterung, ohne Groll im Herzen, ohne daran zu denken, den tückischen
Ränken nachspüren zu lassen, ist der edle Fürst selbstverleugnend, un-
beirrt seinen Weg gegangen, hat als Mitglied der Nationalversammlung
inmitten derselben seine Anerkennung der Verfassung offen ausgesprochen.
Er ist den Verhandlungen des Frankfurter Parlaments, dessen Mitglieder
von den Fanatikern der rechten Seite als Frevler oder Thoren angesehen
wurden, mit voller Unbefangenheit gefolgt und hat den Entwurf der
deutschen Wehrverfassung einer eingehenden Beurteilung unterzogen, die
er, als Manuskript gedruckt, verteilte.
So bereitete sich der schwergeprüfte Thronfolger mit stillem Ernste
auf das Herrscheramt vor, das dem Einundsechzigjährigen als Regentschaft
zufiel. „Was kann ich noch thun," antwortete er auf einen Glückwunsch,
„als meinem Sohne den Weg bereiten?"