1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
3. Gedächtnisrede auf weiland Se. Majestät Kaiser Wilhelm I. 11
da sprach er es noch an demselben Abend mit der ihm eigentümlichen
Verschmelzung von liebenswürdiger Milde und männlichem Ernste offen
aus, wie voll er zu würdigen wisse, was das Vaterland von seinem
Hause erwarte.
Als Heersürst hat er Preußen groß gemacht und das Reich ge-
gründet; aber niemals ist ein siegreicher König weniger kriegerisch und
kampflustig gewesen. Er hatte ein weiches Gemüt. Er schämte sich der
Thrmien so wenig wie die Helden Homers und bewährte der Hellenen
Sprichwort: „Dem wackern Mann wird leicht das Auge feucht". Er
mochte kein Torpedoschiff sehen, weil er sofort der engen Räume gedachte,
in denen die Mannschaften untergebracht werden müssen, und im Felde
trotzte er dem Kugelregen, um den Verwundeten noch dankend die Hand
zu reichen.
Kaiser Wilhelm war ein geborener Herrscher, der nüt gesundem
Blick die Menschenwelt betrachtete, immer des Ganzen und Großen ein-
gedenk. Darum hatte auch das Geringfügige für ihn Bedeutung. Von
keiner Spazierfahrt kehrte er heim, ohne die Neubauten und den Ent-
wicklungsgang der Stadt aufmerksam zu beobachten. Über jeden schönen
Baum in und um Berlin wachte sein königliches Auge. Unserer Uni-
versität war er ein huldvoller Nachbar, ein entschiedener Gegner aller
Pläne, nach denen die Hauptstätten von Kunst und Wissenschaft aus dem
Herzen seiner Residenz entrückt werden sollten. Er folgte dem Umbau
unserer Hörsäle, und als er in einem kleinern Fenster das Licht ver-
mißte, das er dort allabendlich zu sehen gewohnt war, erkundigte er sich, ob
etwa einer der Hausdiener bei dem Umbau seine Wohnung eingebüßt habe.
Den Vorständen der öffentlichen Kunstinstitute sagte er bei feinem
Regierungsantritte, von ihm dürfe man nicht erwarten, was sein kunst-
sinniger Bruder gethan habe. Er nahm für sich keine Kennerschaft, kein
maßgebendes Urteil in Anspruch. Aber alles würdig Gedachte empfand
er tief, und was immer dem Vaterlande zur Ehre gereichte, war seiner-
lebendigen Teilnahme gewiß. Seinem königlichen Herzen that es wohl,
daß nach blutigem Völkerkriege die Aufdeckung von Olympia das erste
Friedenswerk des jungen Reiches war. Schritt für Schritt folgte er den
Arbeiten und trat persönlich für ihre Vollendung ein, denn es sei nicht
seine Art, etwas halbfertig liegen zu lassen.
Mit freudiger Genugthuung begrüßte er die Bildwerke von Pergamon
im Königlichen Museum und ließ sich gern vom Königsdenkmal aus
Nimrud-dagh erzählen, dessen Großartigkeit er bewunderte. Nichts Heil-
sames, so geringfügig es war, durfte unnütz verschoben werden, wenn
es sich um öffentliches Gut handelte. Als er eines Abends davon hörte,
daß nach dem Gutachten unseres Chemikers die farbigen Tonfiguren aus