1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
86 I. Beschreibende Prosa: Kunstgeschichte und Kunst.
mit einemmale ziemlich vollendet hervortritt. Ich rede von demjenigen
Stile der christlichen Baukunst, welcher durch die hoch emporstrahlenden
Gänge und Bogen, durch die wie aus einem Bündel von Röhren zu-
sammengesetzten Säulen, durch die Fülle des Blätterschmucks, die blumen-
und blätterartigen Zieraten hinreichend ausgezeichnet und dadurch auch
ganz unterschieden ist von der ältern Gattung der nach dem Muster der
Sophienkirche in Konstantinopel im neugriechischen Geschmacke erbauten
Denkmäler. Maurisch ist hierin nichts, oder nur ganz Unbedeutendes;
einige wahrhaft maurische Gebäude in Sicilien und Spanien haben einen
wesentlich verschiedenen Charakter. Es werden auch wohl im Morgenlande
solche gotische Gebäude gefunden, aber von Christen erbaut, Burgen und
Kirchen der Tempelherren und Johanniter. Die eigentliche Blütezeit dieser
ganz eigentümlichen Baukunst fällt ins 12., 13., 14. Jahrhundert. In
Deutschland hatte sie allerdings am meisten geblüht, und deutsche Meister
haben nach solchen Begriffen, zu nicht geringer Verwunderung der da-
maligen Italiener, den Dom in Mailand erbaut. Aber nicht in Deutsch-
land allein, besonders in den deutschen Niederlanden, hat sie geblüht, son-
dern ebensosehr in England und im nordwestlichen Teile von Frankreich.
Die eigentlichen ersten Erfinder sind völlig unbekannt; ein einzelner großer
Baukünstler kann nicht der Urheber dieser neuen Kunstart gewesen sein;
sein Name würde sich erhalten haben. Die Meister, welche diese wunder-
baren Werke gebildet haben, scheinen vielmehr eine durch mehrere Länder
verbreitete und unter sich eng geschlossene Gesellschaft gebildet zu haben.
Wer sie aber auch gewesen seien, sie haben nicht bloß Steine übereinander
häufen, sondern große Gedanken darin ausdrücken wollen. Ein noch so
herrliches Gebäude, wenn es keine Bedeutung hat, gehört ans keine Weise
zur schönen Kunst; unmittelbare Erregung des Gefühls, eigentliche Dar-
stellung ist dieser ältesten und erhabensten aller Künste nicht verstattet.
Nur durch die Bedeutung kann sie in einem gewissen Sinne Gedanken
ausdrücken, und sie ist dadurch auch sicher, hohe Gefühle von ganz be-
stimmter Art zu erregen. Symbolisch muß daher alle Baukunst sein,
und mehr als jede andere ist es diese christliche des deutschen Mittelalters.
Was zuerst und am nächsten liegt, das ist der Ausdruck des zu Gott
emporsteigenden Gedankens, der, vom Boden losgerissen, kühn und gerade
aufwärts zum Himmel zurückfliegt. Dieses ist es eben, was jeden mit dem
Gefühle des Erhabenen beim Anblicke dieser wie Strahlen emporschießenden
Säulen, Bogen und Gewölbe erfüllt, wenn er sich dieses Gefühl auch
nicht in einen deutlichen Gedanken auflöst. Aber auch alles andere in
der ganzen Form ist bedeutend und sinnbildlich, wovon sich auch in den
Schriften jener Zeit manche merkwürdige Spuren und Beweise finden.
Der Altar wurde gern gegen Aufgang der Sonne gerichtet, die drei