1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
5. Entstehung des Nibelungenliedes.
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seine poetischen Überlieferungen sich zum Cyklus einer großartigen Götter-
und Heldensage verknüpfen und ausdehnen. Bei demselben Volke aber
wird man die eigentliche Volkspoesie in dem Maße zurückweichen sehen,
in welchem die litterarische Bildung und die mit ihr verbundene Herrschaft
dichterischer Persönlichkeit vorschreiten. Gedeihen und Absterben der Volks-
poesie hängt überall davon ab, ob die Grundbedingung derselben, Teil-
nahme des gesamten Volkes, feststehe oder versage; ziehen die edleren Kräfte
sich von ihr zurück, dem Schriftentum zugewandt, so versinkt sie notwendig
in Armut und Gemeinheit. L. Uhland *.
5. Entstehung des Nibelungenliedes^.
1.
Die ersten Ursprünge des Nibelungenliedes, d. h. die Entstehung
der Nibelungensage, liegen weit vor der Zeit, in welcher das uns
bekannte Nibelungenlied entstand. Denn das Nibelungenlied ist nicht das
Werk eines Dichters in dem Sinne, wie wir heute von poetischen Werken
sprechen. Die Vorstellung, die wir uns von der Arbeit eines Roman-
dichters etwa machen, wie er aus Erlebtem und Gedachtem, aus Fremdem
und Eigenem, aus Überliefertem und Erfundenem eine einheitliche Kom-
position erschafft, welcher sein Geist das eigentümliche und entscheidende
Gepräge aufdrückt, diese Vorstellung müssen wir gänzlich fallen lassen,
wenn es sich um die Entstehung des Nibelungenliedes handelt.
An dem Nibelungenliede ist Jahrhunderte hindurch gearbeitet worden,
bis es die Gestalt erhielt, in der wir es kennen. Und wenn wir die
Personen wüßten, denen wir das Verdienst der Arbeit zuerkennen müssen,
so würden auch sie ohne Zweifel nach Hunderten zählen.
Das Gedicht selbst ist keineswegs ein einfaches unteilbares Wesen
mit scharfen, markierten Zügen, das nur einmal vorhanden, nicht seines-
gleichen hätte. Es ist keineswegs das einzige und ausschließliche Ziel
jener Arbeit von Jahrhunderten, jener Bemühungen von zahllosen Dich-
tern gewesen. Das Nibelungenlied ist nur ein Exemplar einer weit ver-
breiteten, mit dem verschiedenen Himmel sich wandelnden Pflanze.
Unser Nibelungenlied ist in Österreich gewachsen. In Westfalen
aber sang man von Siegfried und Kriemhild und Attila ganz anders.
Im fernsten Norden, auf Island, flüsterte die Muse den Dichtern von
Sigurd dem Drachentöter und von der Jungfrau Brunhilde weit ver-
schiedenen Gesang zu. Die altdänischen Heldenlieder weisen ihre beson-
deren Züge auf, mit denen sie die Gestalten der Sage ausstatten. Und i
i Siehe Teil Ii, S. 368. - Vgl. Teil I (2. Aust.), S. 24.
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