Anfrage in Hauptansicht öffnen

Dokumente für Auswahl

Sortiert nach: Relevanz zur Anfrage

1. Beschreibende und lehrende Prosa - S. 116

1889 - Freiburg im Breisgau : Herder
116 I. Beschreibende Prosa: Litteraturgeschichte. auf den Farischen Inseln singt das Volk im Chore und zum Tanze noch heute wieder andere Lieder von Grimhild und wie sie ihre Brüder mordet. Dennoch ein und derselbe Stoff, ein und dieselbe Sage, die un- zähligemal ihre Gestalten wechselt, ohne jemals ihr innerstes Wesen zu verändern. Wir aber müssen angesichts dieser Vielgestaltigkeit die Frage erheben: Wo sang man zuerst von den Nibelungen? wann und was sang man von ihnen? Und weiter müssen wir fragen: Auf welchem Wege wurde die poetische Phantasie von den besungenen Gegenständen entzündet? Sind es Erdichtungen, ausgeheckt von der frei spielenden Einbildungskraft eines großen genialen Mannes? oder ist es historische Wahrheit? Haben Siegfried, Brunhild, Hagen, Kriemhild gelebt und als leibhaftige atmende Menschen die Erde betreten? oder gehören sie zu jenen Wahngebilden, welche der menschliche Geist sich selber erschafft, ohne es zu wissen, die in Wahrheit niemals gewesen sind, und an die er dennoch glaubt, so fest und fester als an die Dinge, die sein Auge betrachtet, seine Hand berührt? Wir können auf alle diese Fragen ganz bestimmte und einfache Antworten geben. Der Inhalt des Nibelungenliedes ist zur Hälfte wahr, zur Hälfte unwahr. Wahr im wesentlichen ist der zweite Teil des Gedichtes, wo alles hindrängt auf das furchtbare Ende, auf den blutigen Mord an Attilas Hof: das Gedächtnis großer, erschütternder historischer Ereignisse ist darin bewahrt worden. Unwahr ist die erste Hälfte der Dichtung, in welcher Siegfried im Mittelpunkte steht, der glänzende Held, wie er kämpft, wie er liebt, wie er herrscht, wie er stirbt. Aber auch dieser Teil ist nicht erdichtet, wie ein Poet frei wählend in der Masse des Möglichen erfindet, sondern er ruht auf alten religiösen Vorstellungen unserer Urväter, enthält germanisches Heidentum, erzählt Thaten und Schicksale von Göttern, wie sie in der Mythe lebten. Mit der Zusammenfügung beider Teile entsteht die Nibelungensage. Der deutsche Volksstamm, bei welchem diese Zusammenfügung geschah, ist derjenige, dem es zuerst gelang, mit frischer, bezwingender Macht die zer- streuten Kräfte der anderen germanischen Stämme zu einer einzigen Keule zusammenzubinden, die auf die romanischen Völker furchtbar herabsauste. Die Zeit, in welcher die Zusammenfügung vollzogen wurde, ist der Höhe- punkt der Völkerwanderung, die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, als Attila starb und in Rom der Thron der Cä- saren zerbrach. Die Zeit, in welcher die europäische Welt den Germanen zu gehören begann, ist auch die Zeit, in welcher das größte Gedicht ihres Heidentums von den Göttern ihnen geschenkt wurde. Die Nibelungen- dichtung ist der vollständigste, großartigste Ausdruck, den
   bis 1 von 1
1 Seiten  
CSV-Datei Exportieren: von 1 Ergebnissen - Start bei:
Normalisierte Texte aller aktuellen Treffer