1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
15. Walther von der Vogelweide.
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hätte. Jedenfalls ist es eine Thatsache, daß der unselige, mit Kaiser
Heinrichs Tode anhebende Wahlstreit es war, der, ihn aus seiner behag-
lichen Ruhe am Wiener Hofe aufschreckend, aus seinem Geiste die ersten
Funken patriotischer Begeisterung schlug. Die ältesten Gedichte, deren
Entstehungszeit bestimmt werden kaun, fallen, wenn nicht noch in des
Kaisers Todesjahr, doch in den Ansang des Jahres 1198. Mit diesem
großen und so verhängnisvollen Wendepunkte unserer Geschichte sehen wir
Walthers Poesie das politische Gebiet betreten und jene Richtung ein-
schlagen, der er durch volle 30 Jahre unerschütterlich treu geblieben und
von der er bis zu seinem Tode nie auch nur um eines Fußes Breite ab-
gewichen ist.
Über die Wahl, die er zwischen den beiden Bewerbern um die deutsche
Krone treffen sollte, war dieser klare, scharfblickende und gesinnungsvolle
Geist keinen Augenblick schwankend: mit voller Entschiedenheit wandte
er sich demjenigen zu, der durch seine Geburt auf die durch lange Ge-
wohnheit geheiligte erbliche Nachfolge ein unbestreitbares Recht hatte, und
ans dessen Seite alle standen, welche deutsch dachten und fühlten und des
Reiches Größe und Wohlfahrt über die eigenen persönlichen Interessen
stellten: Philipp von Schwaben. Noch von Wien aus erhob er seine
Stimme zu dessen Gunsten, indem er das deutsche Volk aufforderte, Philipp
die Krone aufzusetzen, und als sich durch Herzog Friedrichs Tod das
bisherige Verhältnis gelöst und seines Bleibens dort nicht mehr war,
begab er sich an des Königs Hof und in seinen Dienst.
Über die Dauer dieses Verhältnisses zum staufischeu Könige fehlt
uns jede sichere Andeutung. Doch hat es wohl nicht länger gewährt,
als unbedingt nötig war, kaum über das Jahr 1204 hinaus. Von diesem
Zeitpunkte an, wo sich Philipps Stellung befestigte, wo es ihm gelang,
seinen Gegner in offener Schlacht aus dem Felde zu schlagen und die
Herzen derer, die jenen zuerst erhoben, für sich zu erobern, und er infolge
dieses doppelten Sieges 1205 nun auch zu Aachen gekrönt wurde, von
dieser Zeit au verstummt auch Walthers politische Dichtung, und weder
Philipps gewaltsamer Tod (1208), noch auch Ottos nunmehr einmütige
Erhebung auf den deutschen Thron und dessen Krönung zum römischen
Kaiser (4. Oktober 1209) vermochten ihr einen neuen Ton zu entlocken.
Erst im Jahre 1210, als zwischen Otto und Innocenz der unheil-
bare Bruch eintrat, als der kanm zuvor Gesalbte mit dem Banne belegt
wurde, und neues schweres Unheil dem Reiche drohte, sehen wir Walthers
patriotische Muse wieder aufwachen und für des Kaisers und des Reiches
Recht mit jugendlicher Frische und Kraft sich erheben. Obschon gegen
Otto wegen seines Charakters und seiner Vergangenheit nichts weniger
als sympathisch gestimmt, schloß er sich ihm, als dem gesetzlichen Reichs-