1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
182
I. Beschreibende Prosa: Litteraturgeschichte.
Das Volkslied war ihm die Blume der Eigenheit eines Volkes, seiner
Sprache und seines Landes, seiner Geschäste und Vorurteile, seiner Leiden-
schaften und Anmaßungen, seiner Musik und seiner Seele. Mit un-
vergleichlicher Beweglichkeit des Geistes und mit wunderbarer Kunst der
Nachbildung sammelte und übersetzte er die „Stimmen der Völker" unter
allen Erdstrichen und aus allen Zeitaltern, gleich aufmerksam ans die
Gemütslaute der Grönländer, Lappen, Tataren, Wenden und Morlaken,
wie ans die Laute der Schotten, Spanier, Italiener und Franzosen. Dies
ist das greifbarste und darum auch das anerkannteste Verdienst Herders.
Und doch wird man diesem Verdienste nicht in seinem vollen Umfange
gerecht, wenn man die gewaltigen wissenschaftlichen Anschauungen außer
acht läßt, welche Herder sogleich aus diesen neuen Entdeckungen zu ziehen
wußte. Was Herder 1773 in seiner herrlichen Abhandlung „Über Ossian
und die Lieder alter Völker", was er in der Einleitung zum zweiten
Teile der von ihm 1779 bei Wepgand in Leipzig herausgegebenen „Volks-
lieder" über" die sinnliche Kraft und Anschaulichkeit, über die schwung-
hafte, zwingende Frische und Kühnheit des Volksliedes sagte, ist bis auf
den heutigen Tag unübertroffen und hat für die Wiederbelebung unserer
eigenen Liederdichtung die segensreichsten Früchte getragen. Und von nicht
minder unermeßlichem Einflüsse war der geniale Scharfsinn, mit welchem
Herder immer und überall den großen geschichtlichen Hintergrund dieser
schlichten Volksphantasie hervorhob. Einige der allerfruchtbarsten Zweige
der heutigen Wissenschaft haben hier ihre triebkrästige Wurzel. Es zeigte
und bethätigte sich glänzend, was Herder gedacht und erstrebt hatte,
wenn er in jenen riugeuden Lehrjahren zu Riga einen Montesquieu der
Litteraturgeschichte verlangte. Herder ist es gewesen, welcher die ersten
Grundlagen zum Aufbau der vergleichenden allgemeinen Litteraturgeschichte,
des Erforschens der Poesie in allen Gestalten und Wandlungen gelegt
hat. In der Abhandlung über die „Ähnlichkeit der mittleren englischen
und deutschen Dichtkunst" ist diese hohe Aufgabe in folgenden Sätzen
ausgesprochen: „Die gemeinen Volkssagen, Märchen und Mythologien
sind gewissermaßen Resultat des Volksglaubens, seiner sinnlichen An-
schauungen, Kräfte und Triebe, wo man träumt, weil man nicht weiß,
glaubt, weil man nicht sieht, wo man mit der ganzen ungeteilten
und ungebildeten Seele wirkt; also ein großer Gegenstand für den Ge-
schichtsschreiber der Menschheit, für den Poeten und Poetiker und Philo-
sophen. Sagen einer und derselben Art haben sich mit den nordischen
Völkern über viele Länder und Zeiten ergoffen, jeden Ortes aber und in
jeder Zeit sich anders gestaltet; wo sind die allgemeinsten und sonderbar-
sten Volkssagen entsprungen, wie gewandert, wie verbreitet und geteilt?"
Ferner: „Die kriegerische Nation singt Thaten, die zärtliche singt Liebe;