1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Ii. Lehrende Prosa: Poetik und Ästhetik.
dem Schwächsten, der Marder mit dem Schwachen u. s. w. hier Ähn-
liches? Ähnliches! Gleicht hier bloß der Fuchs dem Starken und der
Wolf dem Stärksten? oder ist jener hier der Starke, so wie dieser der
Stärkste? Er ist es. — Kurz, es heißt die Worte auf eine kindische Art
mißbrauchen, wenn man sagt, daß das Besondere mit seinem Allgemeinen,
das Einzelne mit seiner Art, die Art mit ihrem Geschlechte eine Ähnlich-
keit habe. Ist dieser Windhund einem Windhunde überhaupt, und ein
Windhund überhaupt einem Hunde ähnlich? Eine lächerliche Frage! —
Findet sich nun aber unter den bestimmten Subjekten der Fabel und den
allgemeinen Subjekten ihres Satzes keine Ähnlichkeit, so kann auch keine
Allegorie unter ihnen statthaben. Und das nämliche läßt sich aus die
nämliche Art von den beiderseitigen Prädikaten beweisen.
Ich befürchte, daß ich von einer so klaren Sache viel zu viel Worte
mache. Ich fasse daher alles zusammen und sage: Die Fabel als eine
einfache Fabel kann unmöglich allegorisch sein.
Man erinnere sich aber meiner obigen Anmerkung, nach welcher eine
jede einfache Fabel auch eine zusammengesetzte werden kann. Wie, wenn
sie alsdann allegorisch würde? Und so ist es. Denn in der zusammen-
gesetzten Fabel wird ein Besonderes gegen das Andere gehalten; zwischen
zwei oder mehr Besonderen, die unter eben demselben Allgemeinen begriffen
sind, ist die Ähnlichkeit unwidersprechlich, und die Allegorie kann folglich
stattfinden. Nur muß man nicht sagen, daß die Allegorie zwischen der
Fabel und dem moralischen Satze sich befinde. Sie befindet sich zwischen
der Fabel und dem wirklichen Falle, der zu der Fabel Gelegenheit gegeben
hat, insofern sich aus beiden ebendieselbe Wahrheit ergiebt. — Die be-
kannte Fabel vom Pferde, das sich von dem Manne den Zaum anlegen
ließ und ihn auf seinen Rücken nahm, damit er ihm nur in seiner Rache,
die es an dem Hirsche nehmen wollte, behilflich wäre: diese, sage ich, ist
insofern nicht allegorisch, als ich mit dem Phädrus (Iv, 3) bloß die
allgemeine Wahrheit daraus ziehe:
Impune potius laedi, quam dedi alteri.
Bei der Gelegenheit nur, bei welcher sie ihr Erfinder Stesichorus^
erzählte, ward sie es. Er erzählte sie nämlich, als die Himerenser den
Phalaris zum obersten Befehlshaber ihrer Kriegsvölker gemacht hatten
und ihm noch dazu eine Leibwache geben wollten. „O ihr Himerenser,"
rief er, „die ihr so fest entschlossen seid, euch an euren Feinden zu rächen,
nehmt euch wohl in acht, oder es wird euch wie diesem Pferde ergehen!
Den Zaum habt ihr euch bereits anlegen lassen, indem ihr den Phalaris 1
1 Stesich orus, griechischer Lyriker um das Jahr 600 v. Chr., aus Himera
in Sicilien.