1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Ii. Lehrende Prosa: Poetik und Ästhetik.
Und das ist meine obige Erklärung der Handlung, von der ich glaube,
daß sie auf alle guten Fabeln passen wird. —
Überhaupt hat Batteur die Handlung der Äsopischen Fabel mit der
Handlung der Epopöe und des Dramas viel zu sehr verwirrt. Die
Handlung der beiden letzteren muß außer der Absicht, welche der Dichter
damit verbindet, auch eine innere, ihr selbst zukommende Absicht haben.
Die Handlung der erstern braucht diese innere Absicht nicht, und sie ist
vollkommen genug, wenn nur der Dichter seine Absicht damit erreicht.
Der heroische und der dramatische Dichter machen die Erregung der Leiden-
schaften zu ihrem vornehmsten Endzwecke. Er kann sie aber nicht anders
erregen als durch nachgeahmte Leidenschaften; und nachahmen kann er die
Leidenschaften nicht anders, als wenn er ihnen gewisse Ziele setzt, welchen
sie sich nähern oder von welchen sie sich zu entfernen streben. Er muß
also in die Handlung selbst Absichten legen und diese Absichten unter eine
Hauptabsicht so zu bringen wissen, daß verschiedene Leidenschaften neben-
einander bestehen können. Der Fabulist hingegen hat mit unseren Leiden-
schaften nichts zu thun^sondern allein mit unserer Erkenntnis. Er will
uns von irgend einer einzelnen moralischen Wahrheit lebendig überzeugen.
Das ist seine Absicht, und diese sucht er, nach Maßgebung der Wahrheit,
durch die sinnliche Vorstellung einer Handlung bald mit, bald ohne Ab-
sichten zu erreichen. Sobald er sie erhalten hat, ist es ihm gleichviel, ob
die von ihm erdichtete Handlung ihre innere Endschaft erreicht hat oder
nicht. Er läßt seine Person oft mitten auf dem Wege stehen und denkt
im geringsten nicht daran, unserer Neugierde ihretwegen ein Genüge zu
thun. „Der Wolf beschuldigt den Fuchs eines Diebstahles. Der Fuchs
leugnet die That. Der Affe soll Richter sein. Kläger und Beklagter
bringen ihre Gründe und Gegengründe vor. Endlich schreitet der Affe
zum Urteile:
Tu non videri8 perdidisse, quod petis;
Te credo surripuisse, quod pulchre negas.“
(Phaedr. I, 10.)
Die Fabel ist aus; denn in dem Urteile des Asien liegt die Moral,
die der Fabulist zum Augenmerke gehabt hat. Ist aber das Unternehmen
aus, das uns der Anfang derselben verspricht? Man bringe diese Ge-
schichte in Gedanken auf die komische Bühne, und man wird sogleich sehen,
daß sie durch einen sinnreichen Einfall abgeschnitten, aber nicht geendigt
ist. Der Zuschauer ist nicht zufrieden, wenn er voraussieht, daß die
Streitigkeit hinter der Scene wieder von vorn angehen muß. — „Ein
armer, geplagter Greis ward unwillig, warf seine Last von dem Rücken
und rief den Tod. Der Tod erscheint. Der Greis erschrickt und fühlt
betroffen, daß elend leben doch besser als gar nicht leben ist. ,Nun, was