1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
6. Wesen der Romanze und der Ballade.
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Stoff ruhig, plastisch, hell und durchsichtig dar; dabei zeigt sie die dem
Volke eigene gemessene Breite, eine gewisse Umständlichkeit in der Aus-
führung, die sich bei jedoch gleichmäßig fortschreitender Erzählung oft auch
auf kleine Momente erstreckt.
Dieser epischen Behandlung unterliegt nun ein Stoff, der die charak-
teristischen Eigenschaften des Spaniers, vorzugsweise des Kastiliers, auf
das treueste wiederspiegelt. Diese sind aber hochfliegender Nationalstolz,
tiefe Frömmigkeit, ritterliches Ehrgefühl und heißblütige Phantasie. Eben-
dieselben Eigenschaften durchziehen den ganzen Stoff der Romanze. Der-
selbe zeigt uns ein national begeistertes Volk im Kampfe gegen einen
Feind, den es um so tapferer angreift, als es, durchdrungen von der
Wahrheit seiner Religion und derselben in frommem Glauben auf das
innigste ergeben, in dem politischen Feinde auch einen religiösen Gegner
bekämpft; derselbe zeigt uns Helden, die bei christlicher Frömmigkeit und
oft demutsvoller Bescheidenheit dennoch, entflammt von Gedanken des
Idealen und Romantischen, in ritterlichstem Streben nur das hohe Ziel
der vollen Freiheit des Vaterlandes und der Niederwerfung des Islams
kennen. So faßt das dichtende Volk die Begebenheiten mehr von einem
idealen Standpunkte auf und läßt daher, um die idealen Beweggründe
des Handelns der ritterlichen Helden deutlich erkennen zu lassen, auch die
Tendenz, die Idee derselben mit Hilfe der Reflexion hervortreten.
Ein solcher Stoff hat nichts Schauerliches, nichts Grauenhaftes, er
ist vielmehr, wenn auch nicht oft heiter, sondern meistens ernst, fast stets
durchzogen von einer gewissen Milde, die uns angenehm berührt und uns
selbst mit furchtbaren, grausigen Kämpfen zu versöhnen versteht. Daher
erscheint uns auch der Cid vom Volke gefeiert, wenngleich in Widerstreit
mit der Geschichte, als das Ideal eines christlichen Helden, den jede ritter-
liche Tugend, Tapferkeit, Freiheitsliebe, Frömmigkeit, Demut, Hochherzig-
keit u. s. w., auf das glänzendste ziert.
Der lebhaften Phantasie des spanischen Volkes endlich entsprechend,
liebt die Romanze in vollem Einklänge mit dem sonnigen, farbenprächtigen
Laude, auf dessen Boden sie blühte, lichtvolle Schilderungen, glän-
zende Einzelheiten, stimmungsreiche und schwungvolle Diktion.
Der epischen Ebenmäßigkeit, der ruhigen Entwicklung der Er-
zählung angemessen, ist die Romanze ursprünglich stets in Versen mit fallen-
dem Rhythmus geschrieben, und zwar so, daß der vierfüßig trochäische Vers
der Nationalvers des spanischen Volkes genannt werden kann. Bei dem
großen Reichtume, den die spanische Sprache au voll tönenden Vokalen
besitzt, sind die Verse stets durch Assonanz, oft auch durch Reim ver-
bunden. Diese Form, die sogenannten Redondilien (Redondillas), weisen
schon die ältesten Romanzen auf. Bald jedoch führte mau, wie auch die