1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
7. Die deutschen Dialekte.
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dessen die Entfaltung eintrete; von zu dicht nebeneinander gedrängten
Dialekten werden einige gehemmt und erstickt, wie nicht mit gleichem Ge-
zweige alle Äste des Baumes sich ausbreiten. Für den Ast entscheidet
die Gunst der Luft und des Lichtes, für die Sprache unter allen Ein-
wirkungen giebt den Ausschlag das Gedeihen der Poesie. Da nun die
Poesie auf drei Wegen ausgeht: als Epos, Lyrik und Drama, das Epos
au Alter das erste, das Drama das jüngste ist und das lyrische Lied in
der Mitte steht: so wird die Sprache am reinsten entwickelt sein, in welcher
sich alle Stufen der Dichtkunst ungestört dargethan haben.
Der griechischen Sprache war ein glückliches Los gefallen, weil sie
unter bewegten und ruhigen Menschen auf Landzungen, Halbinseln und
Inseln immer zur rechten Stunde in alle Geheimnisse der Dichtarten ein-
geweiht wurde. Sie entfaltete vier Dialekte, von welchen der äolische
für den ältesten, noch auf dem festen Lande Thessaliens und Böotiens
waltenden und dann weiter vorgedrungenen gilt: er gewährt die alter-
tümlichste, oft dem Latein begegnende und bei Vergleichung urverwandter
Sprachen überhaupt ergiebigste Form. Im Gebirgslande des Pelopon-
nes erblühte der dorische, in Zonien der jonische Dialekt, jener hell und
scharf die lyrischen Töne, dieser weich fließend das Epos zeugend. Aus
allen dreien ging zuletzt im Drama und reichgebildeter Prosa der gewal-
tigste attische hervor, dessen die geistige Ausstattung des griechischen Volkes
nicht mehr entraten konnte. Er ist weder Berg- noch Küstensprache, weder
alt noch neu, sondern die gelungene Einheit sämtlicher Dialekte.
Es mangelt'viel, daß die Geschichte unserer Sprache ein so in sich
abgeschlossenes Bild darböte. Für die richtige Beurteilung ihrer Dialekte
gehe ich aber von folgendem aus der Geschichte der Sprache geschöpften
und in der Natur ihrer Spaltung gegründeten Satze aus: Alle Mund-
arten und Dialekte entfalten sich vor schreitend, und je weiter
man in der Sprache zurückschaut, desto geringer ist ihre Zahl, desto schwächer
ausgeprägt sind sie. Ohne diese Annahme würde überhaupt der Ursprung
der Dialekte wie der Vielheit der Sprachen unbegreiflich sein. Alle Mannig-
faltigkeit ist allmählich aus einer anfänglichen Einheit entsprossen, und
wie sämtliche deutschen Dialekte zu einer gemeinschaftlichen deutschen Sprache
der Vorzeit verhält sich die deutsche Gesamtsprache wiederum als Dialekt
neben dem litauischen, slavischen, griechischen, lateinischen zu einer ältern
Ursprache. Die Besonderheit dieser Sprachen mag schon in Asien ent-
sprungen sein, gewiß war sie dort noch nicht so entschieden und scharf
bestimmt wie späterhin.
Alle Mundarten und Dialekte liefen Gefahr, sich ins Unendliche zu
splittern und zu verwirren, wäre dem nicht eine weise Schranke gestellt
durch das Übergewicht der sich niedersetzenden größeren Schriftsprachen,
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