1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
7. Die deutschen Dialekte.
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die Seite setzen müssen. Es war jedoch besser, daß es unterblieb und
daß nunmehr alle Deutschen mit gesammelter Kraft einer einzigen Sprache
pflegen, die gleich der attischen streben sollte, über allen Dialekten zu schweben.
Die Lautverschiebung^ ist das sicherste Kennzeichen, woran sich
hochdeutsche Sprache von niederdeutscher unterscheiden läßt. Außer den
Schwaben und Bayern sind auch Hessen, Thüringer und Langobarden hoch-
deutsch. Alles, was sächsisch, friesisch, skandinavisch, gotisch heißt, beharrt
entschieden bei der zweiten Stufe. Aber es gab eine Zeit, wo die hochdeutsche
Verschiebung noch nicht da war und alle deutschen Dialekte auf der zweiten
Stufe standen; es gab eine noch frühere Zeit, wo auch die zweite un-
entwickelt war und alle deutschen Konsonanten zu den lateinischen stimmten.
Innerhalb dieser Einheit und Verschiedenheit hat sich die ganze Ge-
schichte deutscher Sprache entfaltet. Wir dürfen sechs bestimmt unter-
schiedene Zungen ansetzen, welche, der Schrift teilhaft geworden, ihre
Eigentümlichkeit behaupteten: die gotische, hochdeutsche, niederdeutsche, angel-
sächsische, friesische und nordische. Von ihnen ist die gotische ganz, ohne
daß etwas Neueres an ihre Stelle getreten wäre, erloschen. Die hoch-
deutsche hat ihre Lebenskraft und Bildsamkeit bewährt und davon in drei
Zeiträumen unverwerfliches Zeugnis abgelegt. Die niederdeutsche wurde
zersplittert; man kann annehmen, daß ihr edelster Teil mit den Angel-
sachsen auszog; aus dem Schoße der angelsächsischen Sprache aber erhob
sich mit starker Einmischung des romanischen Elementes verjüngt und
mächtig die englische Sprache. Zur Volksmundart herabgesunken ist der
Friesen und Chauken Sprache, und ein gleiches gilt von einem großen
Teile der altsächsischen, doch so, daß aus den Trümmern eines andern
Teiles eine eigene niederländische Zunge neu erstand, obschon diese nicht ganz
mit der altsächsischen Grundlage zusammenzufallen, sondern noch batavische
oder fränkische Stücke in sich einzuschließen scheint. In Skandinavien sind
sich altnordischer, schwedischer und dänischer Dialekt fast so zur Seite ge-
stellt, wie auf dem festen Lande gotischer, hochdeutscher, niederdeutscher. Es
haben sich also bis auf heute nur fünf deutsche Sprachen auf dem
Platze behauptet: die hochdeutsche, niederländische, englische, schwedische
und dänische, deren künftige Schicksale nicht vorausgesagt, vielleicht
geahnt werden dürfen. Wie in den Völkern selbst thut sich auch in den
Sprachen, die sie reden, eine unausweichliche Anziehungskraft der Schwer-
punkte kund, und lebhaft erwachte Sehnsucht nach festerer Einigung aller
sich zugewandten Stämme wird nicht nachlassen. Einen Übertritt der
Niederländer zur hochdeutschen Sprache, der Dänen zur schwedischen halte
ich in den nächsten Jahrhunderten sowohl für wahrscheinlich als allen 1
1 Siehe Teil I (2. Aufl.), S. 3.