1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
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Ii. Lehrende Prosa: Poetik und Ästhetik.
was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht,
und man glaubt. Ein einziges vermißte er bei seiner Bühne, daß die
großen Meisterstücke derselben nicht mit der Pracht aufgeführt würden,
deren doch die Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden
Kunst gewürdigt Hütten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus,
mit Verzierungen von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem
schmutzigen Parterre das stehende Volk drängt und stößt, beleidigte ihn
mit Recht; und besonders beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die
Zuschauer auf der Bühne zu dulden, wo sie den Acteurs kaum so viel
Platz lassen, als zu ihren notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er
war überzeugt, daß bloß dieser Übelstand Frankreich um vieles gebracht
habe, was man bei einem freiern, zu Handlungen bequemern und präch-
tigern Theater ohne Zweifel gewagt hätte. Um eine Probe hiervon zu
geben, verfertigte er seine „Semiramis". Eine Königin, welche die Stände
ihres Reiches versammelt, um ihnen ihre Vermählung zu eröffnen; ein
Gespenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blutschande zu verhindern und
sich an seinem Mörder zu rächen; diese Gruft, in die ein Narr hinein-
geht, um als ein Verbrecher wieder herauszukommen: das alles war in
der That für die Franzosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Lärmen
auf der Bühne, es erfordert so viel Pomp und Verwandlung, als man
nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster
zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und ob er es schon
nicht für die französische Bühne, so wie sie war, sondern, so wie er sie
wünschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben vorderhand
so gut gespielt, als es sich ungefähr spielen ließ. Bei der ersten Vor-
stellung saßen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich hätte
wohl ein altväterisches Gespenst in einem so galanten Zirkel mögen er-
scheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser Un-
schicklichkeit abgeholfen; die Acteurs machten sich ihre Bühne frei; und
was damals nur eine Ausnahme zum Besten eines so außerordentlichen
Stückes war, ist nach der Zeit die beständige Einrichtung geworden. Aber
vornehmlich nur für die Bühne in Paris, für die, wie gesagt, Semiramis
in diesem Stücke Epoche macht. In den Provinzen bleibt man noch häufig
bei der alten Mode und will lieber aller Illusion als dem Vorrechte ent-
sagen, den Zai'ren und Meropen auf die Schleppe treten zu können.
Die Erscheinung eines Geistes war in einem französischen Trauer-
spiele eine so kühne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertigt
sie mit so eigenen Gründen, daß es sich der Mühe lohnt, einen Augen-
blick dabei zu verweilen.
„Man schrie und schrieb von allen Seiten," sagt Herr von Voltaire,
„daß man an Gespenster nicht mehr glaube und daß die Erscheinung der