1889 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Hense, Joseph, Führer, Anton
- Sammlung: Lesebuecher Kaiserreich
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Schulformen (OPAC): Höhere Lehranstalt
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): Jungen
12. Worterklärungen des Hohen und des Erhabenen.
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wenn wir in die Tiefe hinabschauen; wenn dieses Gefühl sich mit Furcht
mischt, Schauder. In beiden setzt uns die Natur auf unsern Mittel-
punkt zurück, uns vor dem Sturze zu sichern; Schwindel wirft uns
hinunter. Selbst den schönen Himmel über oder unter uns, z. B. im
hellen See, zu sehen, giebt nicht einerlei Eindruck. Aufwärts erhebt sich
unser Blick, er beflügelt unsere Gedanken; der in der Tiefe zurückgestrahlte
Himmel giebt ein ruhiges Bild, das vor uns schwimmt, in dem wir uns
spiegeln oder sanft versinken. Der Anblick der Weite endlich erhebt
nicht, sondern weitet unsere Seele. Eine große Ebene, wenn nicht Tu-
mult und Gewühl sie zerteilen, oder fremde Gefühle der Finsternis, der
Gefahr, der Einsamkeit u. s. f. unserem Gefühle Entsetzen, Schauder,
Grauen, Angst hinzumischen, giebt einen frohen, ruhigen Anblick. Man
hat den Begriff des Erhabenen verwirrt, wenn man alle diese zum Teil
einander widrigen fremden Gefühle zusammenmischte. Insonderheit ist der
Eindruck der Höhe und Tiefe dem Naturmenschen sehr verschieden. Allen
Nationen, welche die sreie Weite lieben, ist die Höhe Himmel; die
Hölle war ihnen ein Abgrund, wohl gar eine enge Spalte, ein grausen-
voller Kerker.
Erhoben ist, was durch eigene oder fremde Kräfte emporstieg;
unserem Gefühle nach geschieht ohne Mühe kein Heben. Die Sprache
abstrahiert von dieser Mühe des Hebens, wenn sie das, was in der höhern
Region seiner Natur nach ist, erhaben nennt, ob dieses Wort gleich
eigentlich nicht den Ort, sondern die Form bezeichnet. Eine erhabene
Form geht aus einer Fläche hervor, so wie eine hohe Gestalt in sich
selbst ein Höhenmaß trägt. Von Kindheit auf haben wir dieses Höhen-
maß üben gelernt; der Begriff der Höhe zeichnete sich uns früh in die
Seele. Was hoch ist, wird weit gesehen; von einer Höhe sieht man weit
umher, man sieht vieles unter sich, niedrig. Eine Höhe zu erklimmen,
kostet Mühe; sie zu erschwingen, bedarffs Flügel; daher in allen Sprachen
das Hohe ein Ausdruck der Vortrefflichkeit ward. Ein hoher Mut
(Hochgemut) erstrebt die Höhe; ein hoher Sinn hat sie durch Natur
inne. Hohe Gedanken wandeln auf ihr; hohe Begierden
streben hinauf.
Was sagen nun aber erhabene Gefühle? was will das Ge-
fühl des Erhabenen? Erhabene Gefühle können keine anderen sein,
als die sich wirklich erhaben, d. i. vom niedrigen entfernt, in einer
Höhe fühlen. Sie stehen nicht drunten und krümmen sich hinauf; sie
fühlen sich droben. Ein Gefühldes Erhabenen oder am Erhabenen
kann nichts als die Empfindung seiner Höhe und Vortrefflichkeit sein, mit
einem Maße zu sich selbst, vielleicht auch mit Sehnsucht, zu ihm zu
gelangen, gewiß aber mit der Hochachtung, die dem Erhabenen gebührt.